Nach den Landtagswahlen

"Alternativlosigkeit ist schädlich für die Demokratie"

Paul Nolte
Paul Nolte warnt vor "Ausschließeritis". © Horst Galuschka / dpa
Paul Nolte im Gespräch mit Nana Brink · 15.03.2016
Nach den Landtagswahlen vom Wochenende sind bisher unbekannte Koalitionskonstellationen erforderlich. Der Historiker Paul Nolte warnt vor "Ausschließeritis" und sieht in Grün-Schwarz in Baden-Württemberg eine mögliche Vorbereitung für Schwarz-Grün im Bund.
Die drei Landtagswahlen vom Wochenende haben die politische Farbenlehre der Bundesrepublik gehörig durcheinandergebracht. Ohne neue Koalitionskonstellationen lassen sich in einigen Ländern keine Regierungen bilden. Der Historiker Paul Nolte, Professor an der Freien Universität Berlin, warnt vor "Ausschließeritis".
Deutschland müsse die "politische Kultur der Offenheit gegenüber Koalitionsbildungen" beibehalten, mahnt er. "Eine Alternativlosigkeit, das wäre wirklich sehr schädlich für die Demokratie."

Testlauf für Schwarz-Grün auf Bundesebene?

In Baden-Württemberg komme es die CDU zwar hart an, die Rolle des Junior-Partners anzunehmen. Wahrscheinlich werde ihr aber sowieso nichts anderes übrigbleiben. Es könne für die CDU auch "ein strategischer Vorteil" sein, sich auf Grün-Schwarz in Baden-Württemberg einzulassen. "Denn es würde dann den Grünen auch leichter fallen, später möglicherweise auch im Bund mit der CDU zusammenzugehen."
Nolte hält auch andere, bisher undenkbare Koalitionen perspektivisch für möglich, da Politik insgesamt pragmatischer und unideologischer geworden sei und die Parteien in die Mitte gerückt seien: "Vielleicht dauert es nicht mehr so lange, bis wir auch darüber spekulieren, ob in einer Situation wie in Sachsen-Anhalt auch die CDU mit der Linken zusammengehen könnte."

Das Interview im Wortlaut:
Nana Brink: Wissen Sie, was eine Kenia-Koalition ist oder ein Deutschland-Bündnis? Wenn ich jetzt Ampel sage, dann wird es schon ein bisschen einfacher, rot-grün-gelb, also SPD, Grüne und FDP, das will zum Beispiel Malu Dreyer, die SPD-Wahlsiegerin in Rheinland-Pfalz.
Das Deutschland-Bündnis, also CDU, SPD und FDP, das sind die Wahlverlierer im Kretschmann-Land Baden-Württemberg, das hätten sie schmieden können, diese Deutschland-Koalition, aber das ist schon abgesagt worden. Und, ach ja, da hatten wir ja noch Kenia! Wie waren da noch mal die Farben? Also, schwarz-rot-grün, das versucht gerade der CDU-Wahlsieger Reiner Haseloff in Sachsen-Anhalt, weil ihm wahrscheinlich auch nichts anderes übrig bleibt. Denn eine Farbe wird man vermissen in der derzeitigen Farbenlehre: blau. Das steht für die Alternative für Deutschland.
Egal wo wir also hinblicken, es schillert bunt, und für viele bedeutet das Schillern auch eine Zumutung, zum Beispiel für viele linke Grüne bei der Vorstellung, mit der CDU eine Koalition eingehen zu müssen. Also, es wird bunt! Und wie bunt, das will ich jetzt wissen vom Historiker Professor Paul Nolte von der Freien Universität Berlin. Schönen guten Morgen!
Paul Nolte: Ja, schönen guten Morgen, Frau Brink!

Das Farbspektrum wird erweitert

Brink: Es ist schon verwirrend mit den ganzen Farben! Müssen wir die politische Farben- und vor allen Dingen Koalitionslehre ganz neu denken?
Nolte: Also, ein bisschen neu müssen wir schon dazulernen und unser Farbspektrum erweitern. Aber wir müssen uns auch erinnern, dass wir in der Vergangenheit ja schon oft dazugelernt haben und dass Farben, die heute für uns ganz selbstverständlich zueinandergehören, sich früher auch, wie man so sagte, das beißt sich. Aber das ist ja schon ganz früh der Fall gewesen.
Wer weiß noch, als die CDU mit der FDP so verschwistert war, dass eine sozial-liberale Koalition, also rot und gelb undenkbar war, und dann wurde es 1966 und 1969 im Bund möglich. Rot-grün mussten wir auch erst lernen, da war klarer, dass das sozusagen von dem, was man später das Lager nannte, dann zusammengehört. Na ja, und eine schwarz-grüne Koalition ist ja auch kein ganz neuer Gedanke mehr. Also, eine stufenweise Erweiterung. Und das, was in vieler Hinsicht neu ist, sind natürlich die Dreierkoalitionen, die jetzt häufig mit diesen Flaggen abgekürzt werden wie Kenia oder Jamaika.

Strategischer Vorteil von Grün-Schwarz

Brink: Da müssen wir ja noch ganz ..., also bleiben wir mal bei einer, also, grün-schwarz wäre ja sehr sexy. Sie haben es gesagt, schwarz-grün kennen wir ja schon, grün-schwarz hat es auch schon mal lokal gegeben, der Boris Palmer, grüner Oberbürgermeister in Stuttgart, hat das ja schon mal vorgemacht. Das wäre also eine Option, die will man ja auch in Baden-Württemberg. Aber lässt sich das so einfach machen, lässt das die grüne Basis mit sich machen?
Nolte: Ich glaube, in Baden-Württemberg ist das Problem einer grün-schwarzen Koalition, also einer Koalition mit einem CDU-Juniorpartner eher das der Basis der CDU. Die CDU hat sich auch im relativ konservativen Landesverband Baden-Württemberg auf diese grüne Option, auf grüne ökologische Neigungen auch eingestellt. Aber es kommt die Partei doch hart an, da in die Juniorrolle zu gehen.
Ich finde, sie sollte sich das zweimal überlegen und wahrscheinlich wird ihr sowieso nichts anderes übrigbleiben als sich dafür zu entscheiden. Es könnte aber auch für die CDU in Baden-Württemberg und darüber hinaus ein strategischer Vorteil sein, sich in diese Koalition unter Kretschmann zu begeben, denn das würde dann den Grünen auch leichter fallen, später möglicherweise auch im Bund mit der CDU zusammenzugehen.

Politik ist pragmatischer und unideologischer geworden

Brink: Sie haben was ganz Interessantes gesagt, das hört man nämlich oft in diesen Tagen: Es bleibt ihnen ja nichts anderes übrig. Also ist es das Gebot der Stunde, dass die demokratischen Parteien zusammenhalten? Das schließt ja die AfD immer aus.
Nolte: Ja, da verschiebt sich schon etwas. Denn tatsächlich, ich sagte, wir mussten auch früher bei der Farbenlehre neu dazulernen, aber dann waren das ja häufig auch Kombinationen, die auf einmal im Zeitgeist ganz fest zusammenzugehören schienen.
Also, als die FDP ihre sozial-liberale Wendung machte und eben programmatisch auch, mit ihrer ganzen Färbung nach links ging, und dann war die SPD ein natürlicher Partner. Oder wir haben das rot-grüne Projekt gesehen. Und nun ist, glaube ich, auch unabhängig von der Verschiebung der Arithmetik, also der Prozentanteile und wie sich das zusammenrechnet, ist die Zeit dieser großen Projekte vorbei. Schon Kohl ist damit ja ein Stück weit gescheitert mit der geistig-moralischen Wende 1982/83.
Also, Politik ist überhaupt pragmatischer und unideologischer geworden und von daher spielt das tatsächlich eine größere Rolle, dass man einfach Vernunftkonsens sucht. Und es wird auch leichter, weil die Parteien, nicht zuletzt die Grünen in die Mitte gerückt sind. Interessanterweise erleben wir das ja jetzt ein Stück weit sogar in Ostdeutschland nach meinem Eindruck mit der Linken. Vielleicht dauert es nicht mehr so lange, bis wir auch darüber spekulieren, ob in einer Situation wie in Sachsen-Anhalt auch die CDU mit der Linken zusammengehen könnte.

Warum nicht mal ein Koalition Linke - CDU?

Brink: Halten Sie das wirklich für denkbar?
Nolte: Na, vielleicht ist es noch ein bisschen weit hergeholt, aber die Bündnisfähigkeit der Linken ist schon grundsätzlicher infrage gestellt worden.
Brink: Das ist ja schon, Entschuldigung, aber Pragmatismus nahe der Selbstaufgabe, oder?
Nolte: Die Linke entwickelt sich immer mehr – das hat man ja auch gesehen in den Reaktionen aus Sachsen-Anhalt am Wahlabend und gerade auch in dieser politischen Situation, die wir haben – zu einer Art von staatstragender Partei. Ich sage das bewusst auch etwas provokativ, man weiß, dass es viele in der Linken kitzelt.
Aber wenn die Linke funktional – und das ist ja an vielen Stellen so, gerade angesichts der eklatanten Schwäche der SPD in den ostdeutschen Bundesländern –, wenn die Linke funktional ein Stück weit als linke Reformpartei an die Stelle der SPD tritt, dann halte ich das langfristig für gar nicht undenkbar.

Wider die "Ausschließeritis"

Brink: Also, um mal die Kanzlerin zu zitieren, sind dann solche Bündnisse, gerade diese Dreierkonstellationen, die Sie ja auch eingangs genannt haben, die wir jetzt ja vielleicht in Rheinland-Pfalz sehen, wo die FDP dann als Mehrheitsbeschaffer funktioniert – was sie ja übrigens in der Vergangenheit schon oft getan hat –, sind diese Sachen dann alternativlos, weil es sonst keine stabilen Mehrheiten gibt? Ist das das, an was wir uns gewöhnen müssen?
Nolte: Ja, hoffentlich nicht an die Alternativlosigkeit. Es gibt ja in vielen Fällen – in Sachsen-Anhalt ist das tatsächlich sehr schwierig – zwei Koalitionsmöglichkeiten. Und da finde ich es auch ganz wichtig, dass wir uns das, was wir eigentlich uns in der politischen Kultur der Bundesrepublik auch antrainiert haben über viele Jahrzehnte, nämlich eine politische Kultur der Offenheit gegenüber Koalitionsbildungen, dass wir das auch beibehalten. Also keine, wie sagt man so schön, Ausschließeritis. Weder vor den Wahlen noch nach den Wahlen.
Und es gibt in Baden-Württemberg – muss man ganz cool sehen – auch eine Möglichkeit der Koalitionsbildung gegen Kretschmann, das sind die parlamentarischen Spielregeln. Und so muss man immer alle Möglichkeiten im Blick haben, denn eine Alternativlosigkeit, das wäre wirklich sehr schädlich für die Demokratie.
Brink: Der Historiker Paul Nolte, danke für das Gespräch hier in Deutschlandradio Kultur!
Nolte: Ja, vielen Dank!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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