"Nach dem Crash gab es fast einen Sturm auf Bibliotheken"

Sigurjón Sigurðsson im Gespräch mit Alexandra Mangel · 11.03.2011
Island ist das Land mit der höchsten Literatendichte - angeblich veröffentlicht jeder Siebte in seinem Leben ein Buch. Nach der Finanzkrise seien Literaten und Künstler auf "Seelensuche" gegangen.
Alexandra Mangel: Ein kleines naturverbundenes, versponnenes Land von Fischern und Schafzüchtern, in dem es kaum Klassenschranken gibt, dafür aber jede Menge skurriler Künstler und Literaten - das war lange das Bild, das man im Ausland von Island hatte. Erst durch die Finanzkrise wurde es vor drei Jahren gründlich zunichte gemacht, als nämlich deutlich wurde, wie hoch riskant auch in Island mit dem Turbokapitalismus experimentiert worden war.

Eins stimmt aber an diesem Bild: Island ist das Land mit der höchsten Literatendichte - von den knapp 320.000 Isländern veröffentlicht angeblich jeder Siebte in seinem Leben ein Buch. Der Antrag, Reykjavik den Titel Literaturstadt zu verleihen, ist bei der UNESCO schon gestellt, und in diesem Jahr wird Island auch stolzes Gastland der Frankfurter Buchmesse sein.

Und einen der bekanntesten isländischen Autoren darf ich jetzt bei uns im Studio begrüßen: Sjón, mit bürgerlichem Namen Sigurjón Sigurðsson, Autor von Gedichten, Romanen, Kinderbüchern und Songtexten, zum Beispiel für die isländische Sängerin Björk, und seine Texte für Lars von Triers Musical "Dancer in the Dark" sind sogar für den Oscar nominiert worden. Herzlich willkommen, Sjón!

Sigurjón Sigurðsson (Sjón): Danke!

Mangel: Ihr neues Buch "Das Gleißen der Nacht" ist gerade auf Deutsch erschienen, und da versetzen Sie sich zurück in das Island des 17. Jahrhunderts, wo der Glaube an die Naturkräfte regiert, wo verborgene Menschen in den Wäldern und Bergen leben, wo Untote, Gnome, Trolle und Zwerge herumgeistern, wo auch finsterster Aberglaube herrscht. Was fasziniert Sie so an diesen alten Volkssagen, an den alten Mythen?

Sjón: Was mich in dem Buch besonders interessiert hat, war ein Mann, den es also wirklich gegeben hat, Jon Gudmundsson, und der hat uns unglaublich viele Texte hinterlassen und hat sich da sehr viel mit Natur beschäftigt, mit Folklore beschäftigt, aber auch mit seinem Leben beschäftigt. Und es gab nie die Möglichkeit, meine Welt sozusagen mit seiner Welt zu verbinden, und es ist auch hoch interessant, dass er von dem Island nach der Reformation redet.

Und in dem Island nach der Reformation ist Folgendes passiert, dass nämlich plötzlich die Reichen, also die reichen Bauern ihren Wohlstand nicht mehr geteilt haben. Sie haben nicht mehr mit den Ärmeren geteilt, und es kam plötzlich etwas in Island auf, was wir eben noch nicht kannten, und das war die Gier.

Mangel: Sehen Sie da Bezüge zur Gegenwart, zu dem, was Island jetzt durch die Finanzkrise in den letzten Jahren erlebt hat?

Sjón: Ja, weil ich finde, dass man immer etwas über seine Zeit und über seine Gesellschaft aussagen soll, das relevant ist. Und das fand ich relevant an seinem Buch. Weil kein Autor lebt nur in der Vergangenheit. Ein Autor will immer auch etwas über die zeitgenössische Situation auch der Gesellschaft aussagen, und die Kultur und die Traditionen von damals, die wollte ich mit etwas Heutigem verbinden. Und was er beschreibt in diesen Büchern, dieses Zurück-zur-Gier, als die Reichen nicht mehr geteilt haben, als die Reichen sich angefangen haben abzusondern, das war wie ein Spiegel über die Ereignisse, die nach 2005 dann über Island hereingebrochen sind. Ich habe dieses Buch vor der Krise angefangen zu schreiben, aber ich hörte schon so, wie das Krachen im Fundament.

Mangel: Ich hatte beim Lesen Ihres Buches auch das Gefühl, dass diese Rückbesinnung auf die Naturkräfte, dieses Sichzurückversetzen in diese alte mythische Vorzeit, ich konnte mir vorstellen, dass es auch eine starke Sehnsucht vieler Isländer nach diesem alten, dem verlorenen Island anspricht. Gibt es da so eine Sehnsucht auch?

Sjón: Nun, es hat eine Art von Seelensuche nach diesem finanziellen Crash bei uns gegeben, eine Suche nach dem, der wir noch sind. Und was ganz interessant ist: Eine Woche nach dem Crash gab es fast einen Sturm auf Bibliotheken, der Büchermarkt zog unglaublich an, und es gab einen Grundkonsens, dass, wenn wir etwas können, dann können wir sehr gut Geschichten erzählen. Und wenn du dich daran erinnerst, was vor dir lag, und das erzählst, dann erzählst du damit auch etwas über das Leben.

Es ist einfach so, dass dieses Leben, dem wir jetzt so ein bisschen hinterhertrauern, das ist natürlich idealisiert, und im 19. Jahrhundert gab es diese sehr romantischen Gedichte, aber die Kultur des Überlebens, zum Beispiel, wie man diese harte Natur überlebt, wie man auch die Brutalität in einer sehr kleinen Gesellschaft überleben kann, all das sind Beispiele, dass wir uns fragen: Wer waren wir, wer waren wir einmal? Und es sind auch Beispiele dafür, welche Fehler wir vielleicht nicht wiederholen sollten und welche Fäden wir aufnehmen sollten, um weiterzumachen.

Mangel: Wir sprechen im "Radiofeuilleton" mit dem isländischen Schriftsteller Sjón. Sein Buch "Das Gleißen der Nacht" ist gerade auf Deutsch erschienen, und er ist jetzt zu Gast in Berlin. Sjón, der Schock der Krise scheint ja auch die Künstler Islands geweckt zu haben. Die Sängerin Björk zum Beispiel engagiert sich gegen den Ausverkauf des Landes an die Aluminiumindustrie, die mit dem Bau von großen Schmelzanlagen die Umwelt schädigt. Gibt es seitdem mehr politisches Engagement auch vonseiten der Künstler, bringen die sich jetzt mehr ein, sind die aufgewacht?

Sjón: Es besteht kein Zweifel darin, dass die Künstler regelrecht erwacht sind seit diesem finanziellen Zusammenbruch. Vielleicht hatten es Künstler auch zu gut in diesen scheinbar prosperierenden Zeiten, und sie sind auf eine Seelensuche gegangen. Und sie fragen sich: Wer sind wir, was können wir für diese Gesellschaft beitragen? Was ich aber sehr wichtig finde, ist der Aspekt, dass die Künstler versuchen, mit künstlerischen Mitteln Fragen zu stellen, sich zu engagieren, also dass sie nicht das machen, was Künstler manchmal auch machen, dass sie sich politischen Diskursen oder politischen Parteien anschließen, sondern dass sie wirklich mit Mitteln der Kunst kritisieren. Und das ist dann auch eine Kritik, die uns als Gesellschaft weiterbringt. Und ein ganz großer Ausdruck dafür ist der Sieg der "Beste Partei" bei den Wahlen in Reykjavik.

Mangel: Die Isländer haben auf die Finanzkrise, auf den Crash eben auch damit reagiert, dass sie letztes Jahr den Komiker Jón Gnarr zum Bürgermeister und seine Partei, man könnte sagen Spaß-Partei, die "Beste Partei", die Best-Partei an die Macht gewählt haben - in Reykjavik leben immerhin 220- von 320.000 Isländern. Zeigt das, wie wenig Vertrauen die Isländer noch in Politik haben?

Sjón: Also ich bin wirklich sehr froh über diese Entwicklung, und ich bin auch sehr froh über die Prügel, die die klassischen politischen Parteien da bezogen haben, weil sie waren die Architekten von diesem Finanzcrash. Und sie sind die politischen Architekten, die dieses Monster aufgebaut haben, was dann über unseren Köpfen eingestürzt ist. Und in anderen Ländern ist es dann wahrscheinlich oder leider oft so, dass sehr rechtsradikale politische Parteien mit sehr populistischen Parolen und einfachen Lösungen große Wählerstimmen kriegen.

Und stattdessen ist bei uns in Reykjavik eine Partei siegreich hervorgegangen, die aus Künstlern besteht und rund um den Komiker Jón Gnarr. Aber es sind Leute hineingewählt worden ins Stadtparlament, wie zum Beispiel die Sängerin der Sugarcubes oder aber (…), der in einer Death-Metal-Band gesungen hat. Aber diese Künstler bringen ihre Künstlererfahrungen mit ein in die Gesellschaft, und das, finde ich, ist das Schöne daran, weil sie sind sehr integer und sie haben schon in der Kunst sehr überzeugen können.

Und ich finde, dass man damit der klassischen Politik eine sehr schöne Lektion erteilt, und ich will sogar so weit gehen – erlauben Sie mir das zu sagen –, dass damit vielleicht in Island oder in Reykjavik auch für die politische Zukunft des 21. Jahrhunderts ein Vorbild gezeigt wurde.

Mangel: Kann man denn jetzt schon Beispiele dafür nennen, wie sich die Stadt, wie sich das Land entwickelt, wenn die Macht nicht mehr in den Händen von Berufspolitikern, sondern von Komikern und Künstlern ist?

Sjón: Nun, das ist natürlich das Spannende an diesem Experiment, das wir jetzt in Reykjavik beobachten werden in den nächsten vier Jahren: Was wird dort ganz konkret geschehen? Und schon wenn Sie das Wort von professionellen Politikern erwähnen, also von Profipolitikern, dann ist da ja schon etwas falsch. Ein Politiker als Profi? Es sollten doch eigentlich Bürger sein, die die Gesellschaft leiten.

Und es hat sich doch in den letzten Jahren herausgestellt, dass die Politikkaste ihre eigenen Strukturen geschaffen hat, in die der Mann, der einfache Mann auf der Straße überhaupt nicht mehr mit aufgenommen worden ist. Und das ist eben hier eine politische Lektion, dass Bürger wieder zu Politikern werden.

Mangel: Das heißt, diese kleine isolierte Lage Islands, die auch Probleme hervorgebracht hat – Sie haben es schon gesagt –, kann jetzt eben auch gerade begünstigen, dass man ein solches Experiment auch durchführen kann oder schauen kann, ob das funktioniert?

Sjón: Nun, wir sind natürlich wie so eine kleine Miniaturwelt unter Glas, und wir werden jetzt verschiedenste Modelle ausprobieren. Aber ich glaube, wir können der großen Welt da draußen nicht wirklich weh tun. Und vielleicht ist aber auch das die Lektion aus dieser finanziellen Krise, dass selbst in einem so kleinen Land, das kann wirklich große globale Folgen haben, wenn es auf unmoralischen Entscheidungen letztendlich beruht. Und nun müssen wir mal schauen, was wir als diese kleine Insel, als diese kleine Felseninsel, was wir da bewirken können. Aber ich glaube, so viel Schlimmes können wir nicht anrichten, und solche Experimente sind immer sehr nützlich.

Mangel: Dann hoffe ich, dass Sie da noch viel Gutes anrichten. Das war der isländische Autor und Künstler Sjón. Sein neues Buch "Das Gleißen der Nacht" ist gerade auf Deutsch erschienen im Fischer-Verlag, und er hat uns das neue Island nach der Krise ein wenig geschildert. Vielen Dank für das Gespräch!

Sjón: Danke!