Nach dem Anschlag in Manchester

Wie kollektive Gewalt eine Gesellschaft verändert

Menschen gedenken auf dem Albert Square in Manchester der Opfer des Anschlags auf ein Popkonzert. Kurz zuvor war ein 23-jähriger Mann festgenommen worden.
Menschen gedenken auf dem Albert Square in Manchester der Opfer des Anschlags auf ein Popkonzert, verursacht von einem Selbstmordattentäter. © imago / Joe Giddens
Andreas Kemper im Gespräch mit Liane von Billerbeck · 24.05.2017
Welche Auswirkungen haben kollektive Gewalterfahrungen wie das Attentat von Manchester? Sie führen zu einem gesellschaftlichen Trauma, sagt der Soziologe Andreas Kemper. Alte Urängste kommen hoch, die Psyche sei überfordert. Daraus entstünden auch Sprachlosigkeit und Ohnmachtsgefühle.
Liane von Billerbeck: Ein Attentat wie am Dienstagabend in Manchester auf eine Konzerthalle, in der 21.000 vorrangig junge Musikfans, Teenies, Kinder zum Teil, ihrem Idol Ariana Grande lauschten – als die Musik verklingt, beginnt ein Alptraum. Eine Explosion, verursacht von einem Selbstmordattentäter zwischen Konzerthalle und Bahnhof. 22 Menschen sterben, 59 werden zum Teil schwer verletzt.
Wenn ein so großes, dramatisches Ereignis stattfindet, dann sind natürlich vor allem die Leidtragenden, die verletzt worden sind oder Angehörige verloren haben, traumatisiert, aber so ein Anschlag trifft eine ganze Stadt, denken wir an Erfurt, Oklahoma, Oslo, Utøya, Paris, Brüssel, Nizza, oder eben Manchester.
Wie wird eine offene Gesellschaft durch kollektive Gewalterfahrungen verändert? Wie kann sie sich schützen, wie kann sie sich ihr Leben bewahren? Darum soll es jetzt gehen im Gespräch mit dem Soziologen und Publizisten Andreas Kemper. Er ist jetzt am Telefon. Schönen guten Morgen!

Gewalt und die Entstehung eines gesellschaftlichen Traumas

Andreas Kemper: Guten Morgen!
von Billerbeck: Wann sprechen Sie eigentlich von einem gesellschaftlichen Trauma? Ist da die Zahl der Einzelschicksale, die betroffen sind, entscheidend, oder geht es auch um die gemeinsame Wahrnehmung nach so einem Ereignis?
Kemper: Es geht vor allen Dingen um die gemeinsame Situation, in der die Menschen sind. Eine Traumatisierung bezieht sich ja erst mal auf eine Einzelperson. Man spricht von Traumatisierung, wenn etwas sehr Schlimmes erlebt wurde, eine Todesdrohung, oder wenn die gesamte Realität, die bislang galt, nicht mehr gilt. Und der psychische Apparat reagiert darauf. Das ist eine Überforderung der Psyche, und dann – man wird im wahrsten Sinn des Wortes sprachlos, die Symbolisierungsfähigkeit ist nicht mehr gegeben.
Und wenn das jetzt nicht einer einzelnen Person passiert, sondern vielen Bekannten der Person, die in derselben Situation sind, dann spricht man quasi von einem gesellschaftlichen Trauma, weil dann eine ganze Gruppe nicht mehr artikulationsfähig ist, eine ganze Gruppe, der dann quasi die ganze Realität genommen worden ist. Und sie müssen sich überhaupt erst mal wieder einfinden in die Realität und sind im wahrsten Sinn des Wortes sprachlos.

"Eine Gesellschaft im Schockzustand"

von Billerbeck: Was müsste denn in Manchester jetzt passieren, damit dieses gesellschaftliche Trauma, von dem die Stadt betroffen ist, aufgearbeitet werden kann?
Kemper: Sie brauchen viel Ruhe, sie brauchen viel psychologische Betreuung. Sie müssen die Möglichkeit bekommen, darüber reden zu können irgendwann wieder, und das wäre halt wichtig, dass das psychologisch aufgearbeitet wird. Und das braucht sehr viel Zeit.
von Billerbeck: Wir haben ja eine ganze Reihe von Attentaten erlebt, auch Freizeit- und Musikveranstaltungen in Paris, Orlando oder eben jetzt in Manchester. Wie wirkt sich denn diese Kumulation dieser Erfahrung aus?
Kemper: Wie ich gerade meinte, es ist so, dass – es bleibt ja nicht bei einer einzelne Person, die was ganz Schlimmes erlebt hat. Sie muss sich ja mit anderen Menschen austauschen. Und wenn die anderen Menschen aber auch betroffen sind, dann ist quasi eine ganze Gesellschaft im Schock, in einem Zustand, wo sie halt nicht in der Lage ist, das normale Leben so weiterzuführen, wie es bislang gelebt wurde. Es wird aber versucht, das weiterzuführen, weil die Ohnmachtserfahrung auch schwer auszuhalten ist.
Und da besteht dann eben eine Gefahr, dass andere, die nicht betroffen sind, das ausnutzen. Das ist jetzt in Manchester, in Großbritannien nicht unbedingt gegeben. Aber es gibt zum Beispiel in New Orleans, als New Orleans überschwemmt wurde, da waren die Betroffenen quasi alle im Schockzustand, und dieser Schockzustand wurde ausgenutzt, um die gesamte Stadt so umzubauen, wie bestimmte privilegierte Menschen das haben wollten.

Jedes neue Trauma weckt alte Urängste

von Billerbeck: Das heißt, Sie schildern ja auch, dass von diesem gesellschaftlichen Trauma auch Menschen betroffen sind, die gar nicht persönlich jetzt Angehörige verloren haben oder verletzt wurden, weil eben jeder diese Situation kennt.
Kemper: Genau. Wir haben ja eine Gesellschaft, die basiert letztlich, von der Geschichte her, auf Gewalt. Und da muss man in Deutschland halt gar nicht so weit gucken, das ist der Nationalsozialismus, wo jeder betroffen war von Gewalterfahrungen mehr oder weniger. Und das prägt die Gesellschaft, das wird weitergegeben in den Generationen, über die Familien und so weiter.
Es gibt Urängste, da kann angedockt werden. Das ist etwas, was unsere Gesellschaft eigentlich prägt. Jedes neue Trauma weckt quasi diese alten Erinnerungen und führt dann zu Ohnmachtserfahrungen und vor allen Dingen: Gesellschaftliche Gruppen, die sowieso schon viel Gewalt erlebt haben, die werden dadurch dann noch weiter eingeschüchtert.

Was bringen Aufrufe von Politikern zur Gelassenheit?

von Billerbeck: Was ist dann mit der Gelassenheit, die so mancher Politiker fordert, und diese auch trotzigen Sätze hört man ja auch aus Manchester: Wir lassen uns unsere offene Gesellschaft nicht nehmen, wir wollen unser Leben nicht verändern. Funktioniert das?
Kemper: Ja bzw. Jain. Ich finde es sehr wichtig, jetzt tatsächlich gelassen zu bleiben von der Politik her, also jetzt nicht zu einer Überreaktion zu gehen. Wichtig ist halt, bei den Menschen zu bleiben, die betroffen sind, da zu schauen: Was hilft denen? Was kann da gemacht werden.
Und gefährlich ist natürlich, dass bestimmte andere gesellschaftliche Gruppen jetzt ihr Süppchen darauf kochen, dass die schon vorgefertigte Maßregeln haben, die jetzt eingeführt werden müssen. Das dürfte auf gar keinen Fall passieren. Es müsste halt geschaut werden: Wie kann das Ganze aufgearbeitet werden? Und es muss natürlich auch geschaut werden: Wie kann so was verhindert werden? Dass es (nicht) weiterhin passiert, also eine Ursachenbekämpfung auch.
Aber wichtig ist eben, bei den Opfern und den Angehörigen zu sein und da zu schauen: Was wollen sie eigentlich und wie kriegt man sie dazu, das gesellschaftlich auch weiter zu verarbeiten?
von Billerbeck: Wie umgehen mit einem gesellschaftlichen Trauma nach so einem mörderischen Anschlag wie dem von Manchester. Antworten waren das von dem Soziologen Andreas Kemper. Ich danke Ihnen!
Kemper: Danke!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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