Mythische Göttin als gerissenes Mädchen

05.07.2007
Die polnische Autorin Olga Tokarczuk greift in ihrem Buch "AnnaIn in den Katakomben" auf den wohl ältesten Menschheitsmythos zurück, auf Inanna, die Tochter des Mondgottes Nanna und der Mondgöttin Ningal. Sie war die Herrscherin der sumerischen Stadt Uruk und die Göttin von Liebe und Krieg. Die Autorin vermengt den Mythos mit Alltäglichem und erzählt eine Geschichte menschlicher Beziehungen und Machtverhältnisse.
Der Mythos von der sumerischen Göttin Inanna gehört zu den bekanntesten der uralten Erzählungen von Sexualität, Fruchtbarkeit und Krieg.

Die polnische Autorin Olga Tokarczuk, bekannt vor allem für ihre Romane "Taghaus, Nachthaus" und "Ur und andere Zeiten" hat immer wieder mit der literarischen Bearbeitung und Aufbereitung mythologischer Stoffe experimentiert. Sie tat es stets mit einer interessanten Respektlosigkeit, indem sie die Ehrwürdigkeit des Mythos mit höchst alltäglichen Phänomenen kombinierte. Dieses Spiel mit dem Profanen und dem Hohen, den simplen Gegebenheiten des Lebens und dem Geheimnis seiner Endlichkeit hat sie in ihrem neuesten Roman gleichzeitig zum Thema gemacht und auf die Spitze getrieben.

Mythos, das sei "die Epiphanie des Göttlichen im Sprachzentrum des menschlichen Hirns" zitiert sie in ihrem Nachwort den Schweizer Religionswissenschaftler Karl Kerenyi.

Inanna war die Herrin der Stadt Uruk, Mondgöttin, Liebesgöttin, Kriegs- und Fruchtbarkeitsgöttin. Bei den Babyloniern wurde sie zur Ischtar. Bei Olga Tokarczuk ist sie eine Mädchengöttin, jung, schön, verführerisch, leichtfertig, souverän, launisch. "Ihre Väter sind die Mächtigen und Reichen", heißt es. (Im alten Mythos sind es drei große Gottheiten.) Ihre Stadt ist ein Ort, mit dem Filmausstatter in Hollywood eine echte Herausforderung und wahrscheinlich auch Vergnügen fänden: Fahrstühle in die Horizontale und Vertikale, Rikschafahrer die mit ihrem Gefährt fest verwachsen sind, hängende Gärten, Reichtum und Licht oben, Armut, Dreck und Dunkelheit unten, ein Megalopolis, das eher in einer fantastischen Zukunft als in der Vergangenheit zu liegen scheint und wie ein Zerrspiegel gewisse Aspekte unserer Gegenwart zeigt.

Inanna, oder AnnaIn, wie Tokarczuk sie meistens inversiv nennt, steigt hinunter, ganz hinunter, unter die Stadt, wo in Dunkelheit und Feuchtigkeit ihre Zwillingsschwester über die Toten herrscht. Niemand kehrt von dort zurück, aber mit Hilfe ihrer ergebenen Dienerin und Freundin, der Väter, der Mutter und des Ehemanns, der sich - unfreiwillig - opfern muss, gelingt es, Inanna wieder ins Reich der Lebenden zurückzuholen, die sie, ein spezieller Dreh Tokarczuks, nicht einmal vermisst haben.

Aus dem Fruchtbarkeits- und Jahreszeitenmythos wird in diesem Roman eine Erzählung über menschliche Beziehungen, soziale Geflechte, Gesellschaften, Hierarchien, Machtverhältnisse. Es ist ein analytischer, aber kein affirmativer Blick, der hier durch die Schablone des Mythos auf unsere Welt gerichtet wird; und er erzeugt manchmal wahnwitzige Bilder.

Doch so gut das alles - auch sprachlich - funktioniert: Das literarische Genre ist gewöhnungsbedürftig und gewiss nicht jedermanns Sache. Im Rahmen ihrer erklärten Absichten und Vorgaben hat Olga Tokarzuk das Mythos-Projekt durchaus überzeugend umgesetzt.

Rezensiert von Katharina Döbler

Olga Tokarczuk: AnnaIn in den Katakomben. Der Mythos der Mondgöttin Inanna
Roman. Mit einem Nachwort der Autorin
Aus dem Polnischen von Esther Kinsky
Berlin Verlag 2007
geb. 206 Seiten, 16 Euro