Mut zu mehr Lebendigkeit

13.02.2012
In seinem Buch verwebt der Neurobiologe Gerald Hüther Hirnforschung und Humanismus. Er meint: Unser Gehirn kann sich nur entwickeln, wenn wir echte Erfahrungen sammeln, in denen sich Entdeckerfreude, sinnliches Erleben und die Entfaltung eigener Gestaltungskräfte verbinden.
Wichtigtuer sind wir und Besserwisser. Soziale Wesen und Einzelgänger. Krieger ebenso wie Friedensstifter. Kein anderes Lebewesen kann den Planeten in ein Inferno bomben - und eben darum sind wir auch seine einzige Hoffnung.

In einer klaren Sprache, reich an Bildern und ohne jegliche Fachsimpelei - so präsentiert sich das neue Buch von Gerald Hüther. "Was wir sind und was wir sein könnten" liest sich angenehm mühelos, fast wie eine Volksausgabe seiner wichtigsten Gedanken. Doch in den Ausführungen des stets so freundlichen Neurobiologen steckt ein gerüttelt Maß Gesellschaftskritik und Sehnsucht nach Veränderung.

In sechs Abschnitten führt Gerald Hüther seine Leserinnen und Leser durch das, was dem Menschen biologisch gegeben und was ihm möglich ist. Vor allem unser ausgeprägtes Bedürfnis nach gemeinschaftlicher Erfahrung unterscheidet den Menschen vom Tier, arbeitet der Autor heraus. Bis in die intimsten Gefühle, ja, sogar die Träume hinein reicht der Kulturraum, in dem sich Kinder und ihre Gehirne entwickeln. Im Grunde gebe es gar kein menschliches Gehirn im Singular, betont Gerald Hüther. Gehirn - das ist ein lebenslanger Prozess, der soziokulturelle Erfahrungen in neuronale Netzwerke übersetzt.

Das aber geschieht nur dann, wenn wir uns tatsächlich für etwas begeistern. Darum sieht Gerald Hüther im leidenschaftlichen Zuspruch die Basis der spezifisch menschlichen Komplexität. Nur wo sich Menschen an ihren Tätigkeiten freuen, geraten ihre Gehirne unter den Einfluss neuroplastischer Botenstoffe. Dann sorgt eine biochemische Kettenreaktion dafür, dass Nervenzellen ihre vielfältigen Kontakte knüpfen.

Von hier aus gelangt Gerald Hüther zu seiner Klage über den Zustand unseres Miteinanders. Denn ein lebendig um sich tastendes, neugieriges Gehirn lässt sich nicht verordnen. Es braucht echte Erfahrungen, in denen sich Entdeckerfreude, sinnliches Erleben und die Entfaltung eigener Gestaltungskräfte verbinden. Solche Erfahrungen aber machen sich rar in einer Gesellschaft, in der zu viele Menschen sich als machtlos erleben, von Routinen erstickt und zu Leistungsschauen genötigt. Gerald Hüther jedoch wäre nicht Gerald Hüther, hätte er trotz seiner überaus kritischen Gesellschaftsanalyse nicht auch eine Hoffnung parat: Ausbrecher aus Routinen und Ohnmachtserfahrungen werde es immer geben. Oft seien es die jungen Menschen, die sich das Entdecken und Gestalten ihrer Lebenswelt nicht rauben ließen - genau das verstehe die Biologie unter Selbstorganisation des Lebens.

Hatten von der Biologie gespeiste Weltbilder je mit Menschenfeindlichkeit zu tun? Diese bittere Geschichte kann man bei der Lektüre beinahe vergessen. Gerald Hüther verwebt auch in seinem neuen Buch Hirnforschung und Humanismus so selbstverständlich miteinander, als könnten sie gar nicht auseinander streben. Seine Botschaft lautet: Respektieren wir das, was wir sind. Dann können wir mehr von dem sein, wonach wir uns sehnen. Gemeinschaftlicher und mutiger, lebendiger und hoffnungsvoller.

Besprochen von Susanne Billig

Gerald Hüther: Was wir sind und was wir sein könnten - Ein neurobiologischer Mutmacher
S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 2011
189 Seiten, 18,95 Euro