Musikgeschichte

Requiem spornt zu Höchstleistungen an

Von Arne Reul · 23.11.2013
Hunderte von Requien sind in den vergangenen Epochen vertont worden. Die Bezeichnung "Requiem" - hergeleitet aus den Anfangsworten der auf Latein durchgeführten Messe "Requiem aternam dona eis Domine“ – "Herr, gib ihnen die ewige Ruhe“ - wird inzwischen als Synonym für den Totengottesdienst gebraucht.
Dorothea Wendebourg: "Ein Gottesdienst für einen gerade gestorbenen Christen, gab es sehr früh in der alten Kirche. Zunächst einmal haben die Christen, wie die Heiden auch, offenbar am Grab eines Verstorbenen Mahlzeiten abgehalten. Dann scheint es, hat man das auch mit Gebeten, vielleicht Bibellesungen verbunden. Es scheint, dass diese Gottesdienste als ihren Mittelpunkt Schriftlesungen von Tod und Auferstehung gehabt haben, also eher das Vorzeichen der christlichen Hoffnung getragen haben."
Für Dorothea Wendebourg, Professorin für Kirchengeschichte an der Humboldt Universität in Berlin, hat die Totenmesse bereits in den ersten Jahrhunderten des frühen Christentums eine herausragende Bedeutung.
Ein Totengottesdienst wird beim Begräbnis eines Menschen oder zu bestimmten Gedenk- und Jahrestagen abgehalten. Die gängige Bezeichnung einer solchen Messe lautet „Requiem“, hergeleitet aus den Anfangsworten der auf Latein durchgeführten Totenmesse: "Requiem aternam dona eis Domine“ – "Herr, gib ihnen die ewige Ruhe“.
Der hohe Stellenwert dieser Messe hat mit dem tief im Christentum verwurzelten Glauben zu tun, dass der Tod nicht das Ende aller Dinge ist.
Der Mensch, so die Hoffnung, folgt Christi in der Auferstehung. Dieser Glaube wird seit jeher auch mit Musik zelebriert.
Mit dem gregorianischen Choral sind uns Requiem-Gesänge überliefert, die weit über tausend Jahre alt sind. Der liturgische Gesang wurde allerdings immer wieder einer Vereinheitlichung unterzogen.
Zum Beispiel im späten 8. Jahrhundert durch Kaiser Karl dem Großen, denn in seinem riesigen Frankenreich sollten überall dieselben gottesdienstlichen Melodien angestimmt werden.
Damit wurde zugleich die Grundlage geschaffen für die enorme musikalische Entwicklung nachfolgender Epochen - denn nun konnte man sich allerorts auf ein gemeinsames Repertoire beziehen und es folglich auch weiterentwickeln.
Erstes mehrstimmiges Requiem um 1470 komponiert
Die erste mehrstimmige Totenmesse, die schriftlich erhalten ist, stammt von dem flämischen Komponisten Johannes Ockeghem. Um 1470 schrieb er dieses Requiem.
Im Verlauf des Stückes wird die Musik immer kunstvoller, bis sich schließlich vier Stimmen ganz eigenständig voneinander bewegen. Seine elegante und klangschöne Musik findet gerade im Kirchenraum eine ideale Entfaltung.
Dennoch: Ockeghem erlaubte sich mit dieser Mehrstimmigkeit Freiheiten, die damals für eine Totenmesse untersagt waren. Noch war im Rahmen der Liturgie die Schlichtheit des Gesangs, bei der alle Beteiligten dasselbe singen, das Gebot der Stunde. Nach Ansicht von Kai Uwe Jirka, Professor für Kirchenmusik an der Universittät der Künste in Berlin, dienten kirchliche Restriktionen – wie schon bei Karl dem Großen – unter anderem dazu, die Kirche durch eine Vereinheitlichung zu stärken.
Kai-Uwe Jirka: "Es war eben die Idee, durch eine Bestimmung die Musik in gewisser Weise zu instrumentalisieren, um wieder die Unitas in irgendeiner Form herzustellen. Das ist natürlich bei solchen Dekreten und Bestimmungen immer im Hinterkopf, dass man die Unitas der Gläubigen stärkt und in die richtige Richtung bewegt."
Seit dem 16. Jahrhundert waren es vor allem fürstliche Familien, die Musiker dazu anhielten, künstlerische Restriktionen der Kirche zu umgehen. Die Messen, die sie bei den Komponisten in Auftrag gaben, sollten schließlich möglichst prunkvoll den aristokratischen Stand des verstorbenen Familienmitglieds repräsentieren. Die offizielle Kirchenpolitik sah, wie erwähnt, anders aus.
Auf dem Konzil von Trient, das in den Jahren um 1550 abgehalten wurde, einigten sich die Theologen darauf, dass geistliche Musik durch die Verwendung einfacher Melodien und Rhythmen vorwiegend unkompliziert zu sein habe. Auf diesem Konzil wurde auch genau festgelegt, aus welchen Teilen eine Totenmesse bestehen soll.
Am folgenreichsten war dabei die verpflichtende Aufnahme der sogenannten Dies-Irae-Sequenz in die Totenmesse, die den "Tag des Zorns“ heraufbeschwört.
Die gläubigen Katholiken sollten wissen, dass die göttliche Vergebung für den verstorbenen Sünder nicht selbstverständlich sei. Das Konzil erklärte: Der Mensch müsse um sein ewiges Heil zittern.
Diese Entwicklung zeichnete sich nach Dorothea Wendebourg bereits im späten Mittelalter ab.
Dorothea Wendebourg: "Für das Mittelalter wurde ein bestimmter Gedanke für das Leben und Denken der Gläubigen immer wichtiger, nämlich das Jüngste Gericht, die Möglichkeit der Hölle. Die Alternative des Fegfeuers und diese allgemein theologische, geistig-kulturelle Veränderung, prägt nun auch die weitere Entwicklung des Gottesdienstes beim Tod eines Christen. Es werden neue Dichtungen aufgenommen, die die Schrecken der Hölle beschreiben, die Drohungen, unter denen ein Christ leben muss, wenn er sich nicht so benimmt, wie es die Bibel und die Kirche vorschreiben."
Tag der Rache, Tag der Sünden.
Wird das Weltall sich entzünden,
Welch ein Graus wird sein und Zagen,
Wenn der Richter kommt, mit Fragen
Streng zu prüfen alle Klagen!
Sitzt der Richter dann zu richten,
Wird sich das Verborgne lichten;
Nichts kann vor der Strafe flüchten.
Die Dies-Irae-Sequenz entfachte die künstlerische Phantasie der Komponisten.
Das Gebot zur musikalischen Zurückhaltung, so scheint es, war gerade mit der Aufnahme dieser drastischen Dichtung nicht mehr zu halten.
Dorothea Wendebourg: "Gelegentlich hieß es dann in der offiziellen Kirche, also es sollte doch ein bisschen einfacher sein, ein bisschen meditativer, zum Denken auch noch anregend, wenn man so ein 'Dies Irae, Dies Ila' hört von Mozart oder Berlioz, da denkt man nicht mehr, da ist man einfach nur noch erschüttert. Und da wurde gelegentlich gesagt, also bitte etwas mehr Zurückhaltung. In der Kirche müssen auch noch andere Dimensionen zum Tragen kommen."
In seinen Opern bewies Mozart sein besonderes Gespür für musikdramatische Szenen, etwa im Don Giovanni. Da konnte ihm gerade die Vision der Hölle, wie sie das Requiem beschreibt, nicht unberührt lassen. Insbesondere die dichte Abfolge aus Anbetung, Erlösung, Fegefeuer und Vergebung bieten reichlich Stoff für eine abwechslungsreiche und ausdrucksstarke Musik.
Mozart verstarb 1791 mit 35 Jahren - ausgerechnet während der Arbeit am Requiem.
Zu dieser Zeit, verlor die Kirche im Zuge der Französischen Revolution zunehmend an Einfluss. Mozarts Requiem allerdings etablierte sich im Musikleben sehr schnell, wenn auch nicht in erster Linie in den Kirchen.
Die nun überall neu errichteten Konzerthäuser entwickelten sich zu Tempeln des bürgerlichen Musikbetriebs.
Mozart machte vor, wie effektvoll sich das Requiem in Musik setzen ließ. Durch seinen Einfluss entstand schon bald ein neues Genre: Die Konzertmesse.
Kai-Uwe Jirka: "Zu Mozarts Zeiten beginnt der Bürger zu erwachen, das Subjekt zu erwachen und in der Person Mozart - auch bei Beethoven natürlich und bei Haydn auch in Varianten - haben wir jetzt den eigenbestimmten Komponisten, der natürlich auch die Aufklärung mitbekommen hat und sich aus den Fesseln der Barockzeit, der Aristokratie löst und selbstbestimmt wird. Und das Interessante ist, dass eigentlich mit dem Mozart-Requiem und mit dem Mythos, der sich auch darum rankt, eine völlig neue Form des Requiems im 19. Jahrhundert bis ins 20. Jahrhundert stattfindet. Wo die Komponisten mit viel größerer Freiheit auch sich diesen Gedanken, des Totengedenkens, aber auch des Schrecken des Todes stellen, denn nicht umsonst sind im 19. Jahrhundert vor allen Dingen die Dies-Irae-Sequenzen die Elemente der Messvertonung, die besonders viel Zeit in Anspruch nehmen."
Nervenschocks und Tränenausbrüche
"Der Text des Requiems war für mich eine langbegehrte Beute, die man mir endlich auslieferte und auf die ich mich geradezu mit Wut warf.“
So erinnert sich später der französische Komponist Hector Berlioz an die pompöse Uraufführung seines Requiems, die 1837 in Paris mit fast 500 Mitwirkenden stattfand. Berlioz‘ Auftraggeber war der - längst ziemlich kirchenferne - französische Staat, der damit zugleich den Kolonialkrieg von Algerien verherrlicht sehen wollte.
Zeitgenossen berichten von Nervenschocks und Tränenausbrüche unter den Sängern und Zuhörern. Und tatsächlich erzielte Berlioz mit teilweise extremen musikalischen Mitteln eine vorher nie dagewesene Massenwirkung.
Opernkomponisten wie Gounod, Puccini und Giuseppe Verdi interessierten sich nun auch für die Vertonung der Totenmesse.
Vor allem Verdis Requiem erklingt seit der Uraufführung 1874 mit ungebrochener Beliebtheit in den Konzertsälen und Opernhäusern. Und auch bei ihm ist das Jüngste Gericht, der Tag des Zorns, musikdramatisch besonders effektvoll.
Als "Verdis neuste Oper im Kirchengewande“ bezeichnete seinerzeit der Dirigent Hans von Bülow, dieses Requiem. Damit hatte er nicht ganz Unrecht: überschneiden sich doch gerade bei Verdi die musikalischen Gattungen. So finden sich auch in seinen Opern bewegende Szenen, die in Kirchen oder im sakralen Umfeld angesiedelt sind.
Für viele Hörer wird es damit zunehmend egal, wo sie ihre religiösen Gefühle ausleben, ob in der Kirche, im Konzertsaal oder eben der Oper.
Kai-Uwe Jirka: "Im Opernhaus, wo dann sozusagen der bürgerliche Konzerthörer seine ganzen Opern hören kann, aber zu bestimmten Zeiten bekommt er auch noch sein eigenes Requiem auf der Opernbühne - von denselben tollen Musikern gesungen! Das passt natürlich schon auch zusammen, das ist gar keine Frage."
Auch im 20. Jahrhundert war es ein Opernkomponist, der eines der bedeutendsten Requien schuf: Benjamin Britten. Der Pazifist Britten widmete sein "War-Requiem“ Freunden, die im 2. Weltkrieg getötet wurden. Die Texte der lateinischen Liturgie werden hier von vertonten Gedichten eines Soldaten unterbrochen, die die Schrecken und Brutalität des Krieges beschreiben. Britten klagt auch die Kirche an, die zwar eine jahrhundertealte Tradition des Totengedenkens pflegt, aber nur sehr wenig zur Verhinderung von Tod und Leid in den beiden Weltkriegen getan hat.
Viele Komponisten des 20. Jahrhunderts entfernen sich noch weiter vom liturgischen Ursprung des Requiems. Häufig verwenden sie dabei auch ganz andere Texte, so wie dies im 19. Jahrhundert bereits Johannes Brahms gemacht hat.
Hunderte von Requien sind in den vergangenen Epochen vertont worden, sie sind auch ein Beleg dafür, dass ein großer Teil unseres musikalischen Kulturerbes wesentlich im geistigen Umfeld der Kirche geschaffen wurde. Und nicht selten entstanden – gerade in der kritischen Auseinandersetzung mit der Kirche – bedeutende Werke.
Ob der heutige Hörer dieser Musik noch einen persönlichen kirchlichen Bezug mitbringt, spielt allerdings eine untergeordnete Rolle.
Wendebourg: "Religiosität wandert in die verschiedensten Lebensgebiete hinaus, in das bürgerliche Leben, in den Kontext der Bildung. Wo sie dann am Ende sogar gar nicht mehr mit der Kirche zu tun haben müssen - denn das kann dann natürlich jeder aufführen, ob er nun glaubt oder nicht. Und da geht auch jeder hin, ob er nun glaubt oder nicht, einfach weil er das musikalisch reizvoll findet und genießen möchte."
Seit der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts lässt sich auch noch eine Gegenbewegung feststellen: Musiker suchen wieder die Annäherung an die katholische Kirche und setzten sozusagen eine Rückbesinnung ins Werk. Den beiden Komponisten Gabriel Fauré und Maurice Duruflé ist dies jedenfalls auf überzeugende Weise gelungen.