Mütter in der Gesellschaft

"Wahnsinniger Druck"

Gestresst sitzt eine Mutter im Kinderzimmer, während sich dahinter ihre beiden Kinder um ein Plüschtier streiten.
Moderne Frau, aber traditionelle Mutterrolle: Die Erwartungen an Mütter sind enorm, sagt Anne Schilling. © picture alliance / dpa / Patrick Pleul
Anne Schilling vom Müttergenesungswerk im Gespräch mit Dieter Kassel · 16.04.2015
Immer verfügbar sein, die Kinder fördern, den Haushalt schmeißen und möglichst noch arbeiten: Die Erwartungen an Mütter sind enorm. Kein Wunder, dass viele krank werden, wie Anne Schilling vom Müttergenesungswerk weiß.
Die Geschäftsführerin des Müttergenesungswerks, Anne Schilling, begrüßt die derzeitige Debatte um die Überforderung von Müttern. Diese stünden unter einem "wahnsinnigen Druck": Die Gesellschaft habe "unheimliche Erwartungen an jede Einzelne", doch Mütter hätten auch Erwartungen an sich selbst: "Die sind manchmal so hoch, dass sie davon krank werden." Nach Angaben Schillings gehen jährlich rund 50.000 Frauen beim Müttergenesungswerk in Kurmaßnahmen.
Die Frauen werden ziemlich allein gelassen
Nach wie vor herrsche ein traditionelles Mutterbild, das allerdings mit zusätzlichen Aufträgen ausgestattet worden sei, sagte Schilling. So werde erwartet, dass Mütter ständig verfügbar seien, ihre eigenen Bedürfnisse zurückstellten, die Kinder förderten und gleichzeitig selbst vielfältig aktiv seien. Die Frauen würden dabei "ziemlich alleingelassen".
Es geht nicht um persönliches Versagen
Zwar würden sich Väter zunehmend an der Erziehung der Kinder beteiligen, doch die Hausarbeit bleibe meist bei den Frauen, kritisierte Schilling. Wenn es dann nicht weitergehe, empfänden das viele als persönliches Versagen: "Das ist das Problem. Es geht nicht um persönliches Versagen - es geht um eine gesellschaftliche Situation." Frauen müssten lernen, Nein zu sagen, so Schilling. "Sie müssen nicht für alles zuständig sein. Man muss die Verantwortung und auch die Arbeit verteilen, damit es gesund für alle ist."

Das vollständige Interview im Wortlaut:
Dieter Kassel: Seit Orna Donath mit ihrer Doktorarbeit gezeigt hat, dass es Frauen gibt, die es bereuen, Mutter geworden zu sein, diskutieren überall auf dieser Welt Menschen darüber – vor allem im Internet, auch in Deutschland – teils sehr emotional, teilweise auch ein bisschen beleidigend. Natürlich überhaupt nicht beleidigend und auch nur bedingt emotional, sondern eher sachlich wollen wir über das Thema jetzt mit Anne Schilling reden. Sie ist die Geschäftsführerin des Müttergenesungswerks. Schönen guten Morgen, Frau Schilling!
Anne Schilling: Schönen guten Morgen!
Kassel: Ich bin mal ganz ehrlich, mir ging es wie, glaube ich, sehr vielen anderen, als ich von dieser Geschichte das erste Mal gehört habe, war ich völlig überrascht, dass es Frauen gibt, die so denken und das auch sagen. Sie vermutlich nicht, oder?
Schilling: Eigentlich nicht, nein. Also, es ist jetzt nicht so, dass wir mit Frauen in Berührung gekommen sind, die ... oder dass es ein Thema geworden wäre auch im Müttergenesungswerk. Aber es geht im Müttergenesungswerk immer, bei Kurmaßnahmen für Mütter oder auch für Mutter/Kind geht es um die Belastungen von Müttern. Und da geht es um ihren Gesundheitszustand, auch um ihren seelischen Zustand. Und da wissen wir einfach aus Erfahrung, dass Mütter unter einem wahnsinnigen Druck stehen und dass die Gesellschaft unheimlich hohe Erwartungen an jede Einzelne hat.
Und zusätzlich haben die Mütter Erwartungen an sich selber. Und die sind manchmal so hoch, dass sie davon krank werden. Und aus diesem Grund finde ich es gut, dass wir jetzt eine Diskussion haben, wo man darüber sprechen darf. Weil wir erleben, selbst die Frauen, die einfach nur erschöpft sind und nicht mehr können, also diese Mütter, dass die sich rechtfertigen müssen in ihrem persönlichen Umfeld und sofort gefragt werden: Aber du doch nicht, dir geht es doch gut! Und wenn sie dann womöglich auch nicht erwerbstätig sind, dann noch zweimal nicht.
Ganz viele zusätzliche Erwartungen an die traditionelle Mutterrolle
Kassel: Aber wenn Sie von den hohen Erwartungen reden, gerade was auch Erwerbstätigkeit angeht, ist es ein bisschen so, dass die Erwartungen genauso sind wie früher, was die Mutterrolle angeht, und die Erwartung, man kann aber auch arbeiten und Karriere machen, bloß noch dazukam, und dass sich dieses Bild eigentlich nicht verändert hat?
Schilling: Also, so ähnlich würden wir das einschätzen. Also, wir haben ein relativ traditionelles Mutterbild nach wie vor, haben das zwar modernisiert, mit ganz vielen zusätzlichen Erwartungen eben, dass die Frau auch ... Die Mutter soll gleichzeitig eben auch noch vielfältig anderweitig aktiv sein, sie soll die Kinder fördern, ja, wir haben einen Bildungsauftrag dazubekommen, wir haben gleichzeitig unsicherere Lebensverhältnisse für Muttersein und Partnerschaftlichkeit. Also, es ist immer mehr dazugekommen, wir haben dieses traditionelle Mutterbild ein bisschen eingekleidet. Aber in dem Moment, wenn eine Frau Mutter ist, dann kommt die geballte Erwartung an diese traditionelle Mutterrolle, die nämlich auch heißt ständige Verfügbarkeit, immer nur da sein, eigene Bedürfnisse zurückstellen und zusätzlich eben noch dieses Moderne abzufüllen.
Und das bedeutet in der Konsequenz, dass die Frauen ziemlich alleingelassen mit diesen ganzen Erwartungen sind und dass sie, wenn sie es nicht schaffen, und wenn sie merken, sie funktionieren nicht so, wie sie eigentlich auch selber wollen – weil, sie wollen, dass es ihren Kindern gut geht und auch ihrer Familie gut geht –, und sie stellen die eigenen Bedürfnisse zurück. Und das ist immer eine sehr ungesunde Situation. Und wenn es nicht mehr weitergeht, dann empfinden sie das als ein ganz persönliches Versagen. Und das ist das Problem, weil es geht nicht ums persönliche Versagen, es geht um eine gesellschaftliche Situation.
Die Männer haben es viel leichter
Kassel: Bei Twitter, wo wild darüber diskutiert wird, auch in Deutschland, hat eine Frau, die offenbar Mutter ist, den schönen Satz geschrieben: Wenn ich mich noch mal neu entscheiden könnte, dann würde ich Vater werden! Das heißt, die Männer haben es da immer noch viel leichter?
Schilling: Ja, die Männer haben es auf jeden Fall noch viel leichter. Also, wir wissen aus allen Studien, auch wenn wir die Mütter befragen, aus den Belastungen, was sie selber als Belastung empfinden, die Mütter sind nach wie vor die Hauptverantwortlichen in der Familie. Was sich deutlich verändert hat, ist das Vaterbild, auch der Männer. Die Männer wollen auch eine aktivere Vaterrolle haben, das heißt, sie machen mehr in der Erziehung mit, aber den gesamten Bereich der Hausarbeit zum Beispiel, den haben die Frauen in der Regel alleine. Und das ist auch eine sehr hohe Belastung und sie organisieren nicht nur den Haushalt, sie organisieren auch die Aktivitäten, die der Vater nachher mit den Kindern macht.
Kassel: Das Ganze ist auch so ein unglaubliches Missverständnis. Ein einziges – dann hören wir auf damit – weiteres Zitat noch von Twitter, da konnte ich am Namen nicht erkennen, ob das ein Mann oder eine Frau geschrieben hat, aber da wurde geschrieben, Zitat: "Eine Kampagne gegen Kinder und Fortpflanzung. Tiefer kann eine Gesellschaft nicht sinken." – Erleben wir gerade eine Kampagne gegen Kinder und Fortpflanzung?
Schilling: Nein, das sehe ich überhaupt nicht so. Also, ich kann nur noch mal sagen: Die Frauen stehen unter einem wahnsinnigen Druck. Und wie wir das vorhin auch in dem Beitrag der israelischen Forscherin gehört haben, es ist quasi ein Tabu drum herum, eine Mutter hat glücklich zu sein. Und es ist sehr schwer für sie zu sagen, ich kann eigentlich nicht mehr und ich brauche auch eine Zeit, ich brauche eine Zeit für mich. Sie trauen es sich nicht. Und wie in den Kurkliniken zum Beispiel, es ist ein ganzheitlicher Ansatz. Und das heißt, es geht um Medizin, um Physiotherapie, aber es geht immer auch um Sozialpsychologie.
Und das heißt, da geht es auch darum, warum bin ich so krank, warum belastet mich das so, wie ist eigentlich Verantwortung geteilt in meiner Familie? Und die Frauen sollen auch lernen, Nein zu sagen, sie müssen nicht für alles zuständig sein. Und man muss die Verantwortung und auch die Arbeit verteilen, damit es gesund für alle ist. Alle profitiere n davon und wir versuchen den Frauen zu vermitteln, wenn sie die Hälfte von dem machen, was sie tun, sind sie immer noch eine sehr gute Mutter.
Es ist erlaubt zu sagen: Ich kann nicht mehr
Kassel: Trauen sich überhaupt alle Frauen, zu Ihnen zu kommen? Ist das nicht fast auch schon das Eingeständnis einer Niederlage – auch wieder ein Missverständnis – für manche, wenn man überhaupt zum Müttergenesungswerk geht?
Schilling: Doch, das habe ich ja gerade gesagt. Also, wir erleben, wir haben circa 50.000 Frauen im Jahr, die in diese Kurmaßnahmen gehen "müssen", weil sie einfach krank sind. Und jede dieser Frauen kommt an und ... Oder die meisten empfinden es als persönliches Versagen, dass sie eben den Erwartungen nicht entsprochen haben.
Und das, was in der Kurmaßnahme aber passiert, ist, dass sie in dem Zusammensein mit den anderen Müttern und in dem täglichen Tag-und-Nacht-Zusammensein, erleben – und auch natürlich in der Begleitung durch Experten und Expertinnen –, dass es was mit der Gesellschaft auch zu tun hat, dass es auch mit Rollenerwartungen was zu tun hat, auch mit Ansprüchen, auch mit eigenen Ansprüchen, und dass es erlaubt ist, darüber zu sprechen, und erlaubt ist – auch hier bei uns – zu sagen, ich kann nicht mehr und das ist mir zu viel, und ich möchte das nicht machen oder ich werde das nicht tun, weil es zu viel ist und weil es auch um mich als Mutter gehen muss.
Kassel: Wenn ich Sie so einfach zusammenfassen darf, sagen Sie ja auch, die Frauen leiden oft darunter, dass eigentlich noch das Gleiche von ihnen erwartet wird wie vor 40, 50 Jahren. Glauben Sie, dass sich daran, durch diese Diskussion, die wir jetzt erleben, was verändern könnte?
Schilling: Also, vielleicht bringt sie einen ... hilft sie mit. Also, dass sie alleine das verändert, das glaube ich auf gar keinen Fall. Wir erleben ganz stark, dass die Frauen, die jungen Frauen haben ein anderes Mutterbild natürlich und sie wollen ein gleichberechtigtes Partnerschaftsmodell, das ist ihr Traum. Und Männer übrigens auch.
Es kostet sehr viel Kraft, ein eigenes Modell zu fahren
Kassel: Ja, aber entschuldigen Sie, wenn ich da unterbreche, aber da habe ich manchmal den Eindruck, die leiden vielleicht nicht mehr darunter, dass ihr Mann nicht putzen will oder Ähnliches, aber die leiden darunter, dass sie immer Superkinder erziehen müssen und dass es da teilweise den Anspruch gibt, das Kind ist ein Projekt. Da habe ich manchmal den Eindruck, das kann einen doch genauso überfordern, wie dass man einfach keine Zeit mehr hat?
Schilling: Das ist ganz sicher so. Aber die Realität mit Kindern ist ja, dass sie sozusagen relativ vielfältig ist und dass sie nicht immer planbar ist. Und das sind die Anforderungen, denen Mütter und Väter jeden Tag ausgesetzt sind. Und natürlich gibt es auch diese modernere Variante, von der Sie sprechen, und trotzdem sind die traditionellen Erwartungen da. Die sind einfach da, egal ob ich sie reflektiere oder nicht reflektiere. Und das bedeutet, sehr viel Kraft, sehr viel Mut auch zu haben, da ein eigenes Modell zu fahren und sich dem auch ein Stück weit zu entziehen. Das ist für Frauen ziemlich schwierig.
Kassel: Dann hoffen wir mal, dass diese Diskussion und auch unser Gespräch ein bisschen dazu beiträgt, dass dieser Mut häufiger möglich ist. Ich danke Ihnen sehr, Anne Schilling war das, die Geschäftsführerin des Müttergenesungswerks, zu einem Thema, das auch uns noch weiter beschäftigen wird.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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