Müllsuche im Orbit

Von Michael Engel · 05.05.2011
Ausgebrannte Triebwerke von Trägerraketen, die Satelliten ins All transportieren, werden für genau diese Satelliten zum Problem: Millionen kleinster Teile schweben durch den Orbit und entwickeln die Durchschlagskraft einer Handgranate. Ein Computerprogramm soll nun helfen, Kollisionen zu vermeiden.
Mit jeden Raketenstart gelangt auch unliebsamer Schrott in den Weltraum: Ab gebrannte Endstufen, von denen viele sogar explodieren. Die Splitter wiederum zerschmettern intakte Satelliten und produzieren neuen Müll. Dr. Garsten Wiedemann vom Institut für Luft- und Raumfahrtsysteme der TU Braunschweig hat sich auf Weltraumschrott spezialisiert:
"Wir schätzen, dass es heute etwa 45.000 Objekte im Weltraum gibt, die größer sind als fünf Zentimeter. Wir haben etwa 600.000 Objekte, die größer sind als ein Zentimeter. 150 Millionen Objekte, die größer sind als ein Millimeter. Und schätzungsweise sechs Billionen Objekte, die größer sind als einzehntel Millimeter."

Mit zehn Kilometer pro Sekunde fliegen die Bruchstücke durch das All - das sind 36.000 km/h. Ein Metallteil von nur einem Zentimeter entwickelt dabei die Durchschlagskraft einer Handgranate. Es könnte einen intakten Satelliten in tausend Trümmer zerschlagen. Um die Gefahr im Orbit zu bannen, entwickelten die Braunschweiger Wissenschaftler eine Art "Datenbank für Weltraumschrott".

Prof. Peter Vörsmann: "Für die Großen gibt es einen 'Bahndatenkatalog', den die Amerikaner zur Verfügung stellen. Und unsere Spezialität hier in Braunschweig ist die Modellierung von den Kleinstteilchen - vom Mikrometerbereich bis in den 1-Zentimeter-Bereich. Das können wir wirklich sehr, sehr gut."

Faustgroßer Weltraumschrott kann heute problemlos von Radargeräten erfasst werden. Doch alles, was kleiner ist, entzieht sich der Beobachtung. Deshalb entwickelten die Braunschweiger ein Computerprogramm, das den Weltraumschrott virtuell berechnet. Explodiert zum Beispiel tatsächlich eine Endstufe im Weltraum, dann wird dieses Ereignis virtuell nachgezeichnet: Wie viele Bruchstücke sind entstanden? Von welcher Größe? Mit welcher Geschwindigkeit fliegen die Teile auseinander? Für welche Bahnen könnte es gefährlich werden? Die Simulationen sind sehr genau, sagt Peter Vörsmann, weil entsprechende Versuche vorausgegangen sind:

"Also wir haben natürlich verschiedene Annahmen für Raketen, für Satelliten. Und es gibt noch andere Größen: Wie ist das Verhältnis von der Fläche zur Masse eines Bruchstückes? Und dafür haben wir dann zum Teil eigene Modelle gemacht. Wir haben aber auch Modelle von anderen Wissenschaftlern genutzt, um dann diese gesamte Population des Weltraummülls für die Zukunft vorherzusagen."

Genau das ist der entscheidende Vorteil des Programms: Vorherzusagen, ob es bei einer Weltraummission zu einer gefährlichen Kollision mit Weltraumschrott kommen könnte:

Ein paar Zimmer weiter schaut Sven Flegel auf einen großen Bildschirm. Er sieht für bestimmte Bahnen die Größe, Flugrichtung und Geschwindigkeit der gefährlichen Teilchen.

"Es gibt bestimmte Bahnbereiche, die sehr häufig genutzt werden. Zum Beispiel in einer Höhe von 900 Kilometer über Grund. Dort sind sehr, sehr viele Satelliten. Dort ist natürlich auch sehr viel Müll zurück geblieben. Das heißt, hier ist tatsächlich auch die Einschlagswahrscheinlichkeit auch am größten."

Wann und wo genau im Orbit eine Kollision stattfindet, das kann das weltweit einzigartige Programm nicht auf die Minute vorhersagen. Wohl aber die Wahrscheinlichkeit dafür. Ist der Prognosewert hoch, sollte der Betreiber des Satelliten besser eine andere Flugbahn wählen, so Garsten Wiedemann.

"Heute ist die Gefahr noch nicht so besonders groß, aber es gibt schon einige Umlaufbahnen, und das sind vor allem die sonnensynchronen Umlaufbahnen in etwa 800 bis 900 Kilometern Höhe, wo Satelliten heute schon häufig Ausweichmanöver fliegen müssen."

Zum Glück fliegt die Internationale Raumstation ISS nur 340 Kilometer über der Erde. Dort ist Schrott seltener, doch viel gefährlicher, weil Menschenleben bedroht werden. So musste in 2010 die Position der ISS um einen halben Kilometer verändert werden, um einem Schrottpartikel auszuweichen. Die Kollisionswahrscheinlichkeit lag zwar nur bei 1:10.000, doch niemand wollte dieses Risiko eingehen. Insgesamt musste die ISS rund zehn solcher Manöver fahren. Ein paar Etagen höher geht alle zehn Jahre ein Satellit verloren - durch Kollision mit Weltraummüll. Noch einmal Garsten Wiedemann:

"Ein Erdbeobachtungssatellit kostet viele hundert Millionen Euro. Man muss sich dann die Frage stellen, ob man das Risiko, einen solchen Satelliten zu verlieren, in einer fernen Zukunft noch bereit ist zu tragen. Raumfahrt wird sicherlich noch möglich sein. Nur eben die Wahrscheinlichkeit, dass ein teures Raumfahrzeug ernsthaft beschädigt wird oder sogar vollständig zerstört wird, die wird in der Zukunft steigen, wenn wir heute nicht anfangen, Weltraummüll zu vermeiden."

Der Anfang ist gemacht: Raketen dürfen heute keinen Treibstoff mehr enthalten, wenn sie den Orbit erreichen. So können sie nicht mehr explodieren und den Weltraum in einen Schrottplatz verwandeln.