"Mr. Strafgerichtshof": Keiner kann sich sicher sein

Hans-Peter Kaul im Gespräch mit Ute Welty · 17.03.2011
Es sei nicht ausgeschlossen, dass der libysche Machthaber Gaddafi am Ende auch in Den Haag auf der Anklagebank landet, meint Hans-Peter Kaul, Richter am Internationalen Strafgerichtshof. Bei Milosevic hätte das schließlich auch niemand geglaubt.
Ute Welty: Entschieden ist Bundesaußenminister Westerwelle dem Eindruck entgegengetreten, die Staatengemeinschaft sehe dem Töten in Libyen tatenlos zu.

Guido Westerwelle: Wir wollen und dürfen nicht Kriegspartei in einem Bürgerkrieg in Nordafrika werden, wir wollen nicht auf eine schiefe Ebene geraten, an deren Ende dann deutsche Soldaten Teil eines Krieges in Libyen sind.

Welty: So Guido Westerwelle in seiner Regierungserklärung, und ja, es sind Sanktionen erlassen worden gegen Staatschef Gaddafi, und ja, es sind Ermittlungen aufgenommen worden am Internationalen Strafgerichtshof. Seit ziemlich genau acht Jahren ist Hans-Peter Kaul dort Richter, und er gilt auch als einer der Väter dieser Institution – nicht umsonst lautet sein Spitzname "Mr. Strafgerichtshof". Guten Morgen, Herr Kaul!

Hans-Peter Kaul: Guten Morgen, Frau Welty!

Welty: Wie muss ich mir laufende Ermittlungen am Strafgerichtshof vorstellen? Was sammeln Sie an Erkenntnissen, und nach welchen Kriterien werden diese Erkenntnisse dann sortiert?

Kaul: Diese Frage würde am besten natürlich der Ankläger, der die Ermittlungsarbeiten leitet, beantworten können. Ich spreche jetzt aus der Sicht eines Gerichtsangehörigen, der einigermaßen die Arbeitsweise der Anklagebehörde kennt. Wir haben eine Ermittlungsabteilung innerhalb des Gerichtes, das sind circa 100 hochqualifizierte Polizeibeamte, Polizeikommissare, unter anderem auch aus Deutschland.

Entweder hat das Land, in dem Massenverbrechen begangen wurden, selbst um die Ermittlungen nachgesucht, dann reisen unsere Ermittler dorthin, als ganzes Team. Sie müssen sich das so vorstellen wie eine Art von Mordkommission, die aber Massenverbrechen untersucht.

Wenn eben das Land die Zusammenarbeit mit dem Strafgerichtshof grundsätzlich verweigert – das ist bei Sudan der Fall, und es gibt keine Anzeichen, dass Libyen den Strafgerichtshof bei den Ermittlungen unterstützen wird –, dann muss der Ankläger alle Erkenntnisquellen ausschöpfen, er muss mit Flüchtlingen reden, er muss öffentliche Quellen ausschöpfen, er muss das Internet, das heute eine ungeheuer wichtige Quelle von Informationen geworden ist, nutzen. Und auf diese Weise trägt er allmählich einen ungeheuren Schatz von Informationen zusammen, aus dem dann wieder die strafrechtlich relevanten Informationen über Massenverbrechen herausgefiltert werden.

Welty: Das klingt nach einem sehr komplizierten Prozedere.

Kaul: Es ist ein kompliziertes Prozedere. Wir sind ein Gericht, was mancherlei Schwierigkeiten hat. Ungeheure Mengen von Beweismaterial müssen zusammengetragen werden, das ist anders als in der "Tatort"-Sendung am Sonntagabend. Und dann sind die Verbrechen meistens von den Führungstätern befohlen worden – die haben aber auch alle Möglichkeiten, die Kommandokette zu verschleiern, sie haben auch Machtmittel, um sozusagen sich zu schützen.

Dann finden die Verbrechen in weit entfernten Ländern statt. Sie müssen sich vorstellen, dass wir ja diese Informationen aus diesen 4000, 5000 Kilometer entfernten Ländern alle hierher transportieren müssen und aufarbeiten müssen, bis es förmliche Gerichtsakten werden. Aber es funktioniert.

Welty: Angesichts dieser Schwierigkeiten – welche Chance gibt es überhaupt auf ein Urteil? Bisher ist ja kein Prozess abgeschlossen, kein Urteil gesprochen worden.

Kaul: Also wir sind jetzt gerade dabei, die ersten Verfahren abzuschließen. Lubanga ist ein Führungstäter, ein War Lord aus dem Kongo, der wegen der massenhaften Rekrutierung und des Einsatzes von Kindersoldaten angeklagt ist. Das Verfahren geht dieses Jahr zu Ende, das Katanga-Chui-Verfahren ebenfalls.

Es ist aus meiner Sicht nicht richtig, die Wirkung des Gerichtes rein an der Zahl der Fälle zu messen. Die Abschreckungs- und die Präventionswirkung des Gerichtes – das ist ein Bereich, der lässt sich leider nicht messen, denn alle Straftaten, die nicht begangen werden, weil die Leute Angst davor haben, in Den Haag zu landen, die kann man leider eben nicht feststellen.

Aber wir haben zum Beispiel gesehen, dass nach den Haftbefehlen gegen den sudanesischen Präsidenten Baschir, dass dann dort das Ausmaß und die Zahl der Verbrechen an der südsudanesischen Bevölkerung massiv zurückgegangen sind. Es geht darum, dass man auch das Sprichwort widerlegt: Die Kleinen hängt man und die Großen lässt man laufen.

Welty: Apropos groß – ist es überhaupt vorstellbar, jemanden wie Gaddafi zu verhaften und dann nach Den Haag zu bringen?

Kaul: Ich frage zurück: Haben Sie geglaubt, dass es jemals möglich sein würde, Milosevic hier einzuliefern? Das hat man auch nicht für möglich gehalten. Ich frage zurück: Hat man geglaubt, dass es jemals möglich sein würde, Saddam Hussein den Prozess zu machen?

Seit Nürnberg sind wir in einer neuen Lage, nämlich, dass Führer von Staaten und Politiker, die diese Grenze zu Massenverbrechen überschreiten und dafür Verantwortung übernehmen, die können nicht mehr sicher sein, dass sie sich hinter solchen Mauern wie Staatensouveränität und Immunität von Politikern verstecken können.

Im Grunde genommen muss jeder – und das steht auch in unserem Gründungsvertrag, dem Römischen Statut, ausdrücklich so drin – damit rechnen, dass die amtliche Eigenschaft vollkommen irrelevant ist, wenn jemand solche Verbrechen begeht.

Welty: Hans-Peter Kaul, deutscher Richter am Internationalen Strafgerichtshof. Herzlichen Dank für das Gespräch hier in Deutschlandradio Kultur!

Kaul: Auf Wiedersehen, Frau Welty.
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