Moshe Kahn zur Parlamentswahl in Italien

Eine Entscheidung "über das Schicksal" des Landes

Anhänger der Fünf-Sterne-Bewegung (M5S) protestieren in Rom, Italien, vor dem Parlamentsgebäude gegen eine umstrittene Wahlrechtsreform.
Anhänger der Fünf-Sterne-Bewegung protestieren im Oktober 2017 in Rom. © ANSA / dpa-Bildfunk / Angelo Carconi
02.03.2018
Falls die Fünf-Sterne-Bewegung nach der Parlamentswahl in Italien an die Macht komme, sei dies "eine Bedrohung für die Demokratie", sagt der Autor und Italien-Kenner Moshe Kahn. Die Bewegung sei keine Partei, sondern "eine sektiererische Massengruppierung".
Joachim Scholl: Vom politischen Frankreich nach Italien, wo am Wochenende ein neues Parlament gewählt wird, eine Wahl, die auch im bedrohlichen Zeichen von Demokratie- und Europaverdruss steht. Wir wollen jetzt wissen, wie das geistige Italien zu dieser Entwicklung, speziell auch zu dieser Wahl steht. Und da sind wir jetzt gespannt auf die Meinung von Moshe Kahn, er ist einer der profiliertesten literarischen Kenner Italiens als Übersetzer und Autor. Seit über 30 Jahren überträgt Moshe Kahn italienische Literatur ins Deutsche.
Für sein Lebenswerk hat er in Deutschland 2015 den Paul-Celan-Preis bekommen, und die Stadt Palermo hat ihn zum Ehrenbürger gemacht. Moshe Kahn ist bei uns im Studio – willkommen.
Moshe Kahn: Danke sehr!
Scholl: Herr Kahn, man darf es wohl verraten, Sie stehen im 76. Lebensjahr, haben diese italienische Welt, die Kultur, die Politik seit Epochen, kann man ja schon sagen, im Blick.
Von dieser Wahl heißt es jetzt, sie sei eine ganz besondere, weil die innen- wie die europapolitischen Spannungen nie größer gewesen seien. Stichworte lauten Flüchtlingspolitik, Arbeitslosigkeit, Rechtspopulismus, Europamüdigkeit – sehen Sie das auch so, dass das eine spezielle, besondere Wahl ist, mit Ihrer Erfahrung?
Kahn: Ja. Ich habe die Möglichkeit, nun inzwischen 50 Jahre auf Italien zu blicken, von denen ich 30 Jahre intensivst im Land selbst gelebt habe, und muss sagen, so nach meinem Gefühl ist das die erste Wahl in 50 Jahren, die das Schicksal Italiens entscheiden könnte.

"Das Parteienspektrum ist sehr zersplittert"

Bisher gab es oft schwierige Situationen, sehr schwierige Situationen in Italien, aber die jetzige ist ganz besonders schwierig, weil das Parteienspektrum natürlich sehr zersplittert ist, die gegenwärtige Regierungskoalition aus gemäßigten Linksparteien, die PD, vielleicht nicht mehr die Unterstützung der Wähler hat. Die größte Gruppierung ist dieser MoVimento Cinque Stelle, die Fünf-Sterne-Bewegung, die nach den letzten Umfragen 35 Prozent der Stimmen bekommt. Und das bedeutet, sie müsste nur 40 Prozent haben, um dann regierungsfähig zu werden.
Scholl: Schicksalswahl nennen Sie das, Moshe Kahn. Wir wollen ja auf die intellektuelle Kultur Italiens schauen. Sehen das die Schriftsteller, die Intellektuellen, auch so? Wie positionieren sie sich vor und zu dieser Wahl?
Kahn: Ich kann natürlich nicht über alle Schriftsteller und Intellektuellen sprechen. Ich kann auch keinen wirklichen Trend ausmachen. Ich habe Freunde von mir befragt von Piemont bis Sizilien, wie sie die Dinge nennen, auch einige hier in Deutschland, wie sie die Dinge sehen.

Migration und Armut bleiben schwer zu lösende Probleme

Bei den Intellektuellen ist es so, dass sie eine zurückhaltende Perspektive einnehmen, weil sie der Meinung sind, in dieser Wahl und in diesem Wahlkampf sind über die wesentlichen Dinge, die diese Wahl entscheiden werden, nicht ausreichend gesprochen worden, nämlich die Migration vor allem aus Afrika nach Europa, die Umwandlung unserer eigenen Lebensverhältnisse, über den Hunger, über die Armut, über die Gewalt. Das alles ist nicht wirklich zur Sprache gekommen, und die werden nicht nur diese Wahl bestimmen, sondern auch alle nächsten Wahlen, zunächst mal die in vier Jahren, die in acht Jahren. Die Probleme lösen sich nicht so schnell.
Scholl: Wenn Sie von einer Zurückhaltung sprechen, gibt es denn überhaupt Schriftsteller, die sich hier engagieren, einmischen, prominente Namen, die vielleicht auch öffentlich auftreten, in Zeitungen, in Essays, im Fernsehen, im Rundfunk.
Kahn: Saviano hat versucht, eine Gruppierung auf die Beine zu stellen …
Scholl: Roberto Saviano, der Schriftsteller, der noch immer von der Mafia bedroht wird.
Kahn: Richtig. Aber das war wohl nur eine kurze Blüte, und die Italiener nehmen nicht mehr so viel wahr, haben nicht mehr dieses große Interesse, das sie anfangs hatten. Das nimmt also sehr ab und ist ziemlich geschwächt und er steht relativ allein da. Was mal eine sehr schöne Bewegung hätte werden können.

"Eine starke Europakritik"

Scholl: Europa ist ja auch bei vielen Autoren durchaus in der Kritik. Welche Haltungen haben Sie da beobachtet?
Kahn: Eine durchaus starke Europakritik und europaskeptische Kritik, die darauf zurückzuführen ist, dass die Italiener, und damit meine ich nicht nur die Linken. Sondern die gesamte italienische Bevölkerung von links bis rechts hat das Gefühl, die europäischen Institutionen lassen Italien mit dem Problem der Zuwanderung allein. Und das kann man feststellen, Italien reklamiert ständig in Europa, in Brüssel, Unterstützung, und die wird nicht gegeben.
Stattdessen hat man dieses alte Dublin-Modell reaktiviert oder wieder in Gültigkeit versetzt, das aber eigentlich völlig überholt ist in der Form, denn es wurde damals abgefasst, als wir noch lange nicht von Flüchtlingsströmen geträumt haben. Also müsste das aktualisiert werden. Das ist ein großes Manko, dass man Europa…
Scholl: Das hat sozusagen ja auch Auswirkungen auf die italienische Linke, die dann eben auch durchaus antieuropäisch gesinnt ist. Ich meine, bis 2015 hat sich Deutschland ja auch den schlanken Fuß gemacht und gesagt, Flüchtlinge müssen da untergebracht werden, wo sie ankommen. Dann hat sich das geändert. Wie hat sich das eigentlich auf das Verhältnis Italiens zu Deutschland ausgewirkt, Ihrer Beobachtung nach?
Kahn: Meine Freunde in Italien und ich selbst auch habe das Gefühl, dass sich das nicht wirklich ausgewirkt hat, ich meine, negativ ausgewirkt hat auf das Verhältnis zwischen Deutschland und Italien. In Italien ist man sogar der Meinung, dass die beiden Länder, Deutschland und Italien, zu den Motoren gehören, die Deutschland [vermutlich gemeint: Europa; Anmerkung der Redaktion] voranbringen, natürlich unter Einbeziehung auch Frankreichs. Aber das sind die drei Länder, die doch den wesentlichen Anteil haben an der Entwicklung in Europa. Es ist auch nicht so, dass die gesamte Linke das – es gibt jenseits oder diesseits der Linken noch eine extreme Gruppe der Linken, die sind antieuropäisch, eindeutig.

Populistische Slogans statt Lösungen

Scholl: Lassen Sie uns doch mal auf diese sogenannte Fünf-Sterne-Bewegung zurückkommen. Beppo Grillo war da natürlich die große Figur. Eine betont antipolitische Haltung, die diese Partei immer propagiert hat und die jetzt wirklich zur stärksten politischen Kraft sich entwickelt hat. Wie wird denn das von Schriftstellern, von Freunden, die Sie haben, reflektiert, kommentiert?
Kahn: Das ist natürlich ein ganz schwieriges Phänomen. Das ist eine Partei, die gar kein Programm hat, die auch keine Lösungsvorschläge hat und eigentlich ja auch keine Partei ist, sondern eine sektiererische Gruppierung, Massengruppierung muss man sagen. Das hat natürlich damit zu tun, dass es viel leichter ist, Populismus zu verstehen und populistische Slogans zu verstehen als die komplexen Strukturen der Wirtschaft und der Finanz. Und das ist natürlich eine Bedrohung, das wäre eine Bedrohung für die Demokratie in Italien. Berlusconi beispielsweise, der wäre keine Bedrohung. Der wäre eine Bedrohung für die Wirtschaft.

Berlusconi sei auferstanden von Toten

Scholl: Der ja auch dort wieder, der ewige Untote, das Haupt reckt, obwohl er nach seinen Verurteilungen bis 2019 gar kein Amt bekleiden darf. Ich meine, der Mann gehört als Typus anscheinend zu Italien wie Pinocchio – das ist ja eigentlich eine literarische Figur, nicht?
Kahn: Ja. Er ist auf wunderbare Weise wieder auferstanden von seinen Toten, das ist bedauerlich. Und dass er eine Koalition eventuell mit der nationalistischen Lega eingehen könnte, das ist sehr bedenklich. Er hat zwar gesagt, das käme erst mal nicht infrage. Es könnte aber zu einem Bündnis kommen.
Ich zweifle gar nicht daran, wenn die sich alle zusammentäten, also die Fünf-Sterne-Bewegung, Berlusconi, die Lega, die Fratelli d'Italia, dass es zu einem Bündnis kommt, das aber am Tag nach der Wahl wieder zerfallen würde.
Scholl: Italien wählt. Wir haben die Einschätzungen von Moshe Kahn, dem Übersetzer, gehört. Vielen Dank dafür und für Ihren Besuch. Alles Gute Ihnen!
Kahn: Ich danke Ihnen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Mehr zum Thema