Moscheengemeinden in Deutschland

Innovative Konzepte für Imam-Ausbildung gesucht

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Auch Imaminnen sieht Harry Harun Behr als festen Bestandteil des künftigen Moscheenalltags. © Deutschlandradio
Harry Harun Behr im Gespräch mit Anne-Françoise Weber · 08.10.2017
Für Harry Harun Behr, Erziehungswissenschaftler mit Schwerpunkt Islam, ist die theologische Ausbildung künftiger Imame an den Universitäten grundlegend. Eine praktische Ergänzung durch die Moscheegemeinden hält er aber für sinnvoll.
Anne Françoise Weber: Die Zahl der Protestanten und Katholiken im Land nimmt ab, die der Muslime nimmt zu. Das heißt, es braucht auch mehr Imame, die das Gebet anleiten, die Freitagspredigt halten und auch sonst Aufgaben in den Moscheegemeinden übernehmen. Wie steht es denn hier mit dem Nachwuchs? Je lauter die Rufe danach werden, den Einfluss ausländischer Geldgeber auf Moscheegemeinden zu reduzieren, desto mehr stellt sich doch auch die Frage danach, wie eine Imam-Ausbildung in Deutschland aussehen soll und wer sie leisten kann. Braucht es analog zum Modell der Kirchen eine Art Imam-Seminar oder ein Vikariat für Imame?
Das sind Fragen, über die ich vor der Sendung mit Harry Harun Behr gesprochen habe. Er ist Professor für Erziehungswissenschaft mit Schwerpunkt Islam an der Universität Frankfurt und Sprecher der Deutschen Gesellschaft für Islamisch-Theologische Studien. Herr Behr, bevor wir jetzt hier zu rasch irgendwelche Parallelen aufmachen, als ob Imame eine Art Pastoren seien, beschreiben Sie doch noch mal, was die Aufgaben eines Imams in einer Moscheegemeinde in Deutschland sind.
Harry Harun Behr: Ich würde gerne von Imaminnen und Imamen sprechen, da dieses Berufsfeld Männer wie Frauen umgreift. In den Moscheen in Deutschland, die sich ja sehr stark nach ethnischen oder kulturräumlichen Zugehörigkeiten gliedern – marokkanische Moscheen, türkische Moscheen und so weiter –, ist die Rolle eines solchen Imams immer auch stark geknüpft an die kulturellen Gewohnheiten der Nutzerinnen und Nutzer der Moschee.
Weber: Und die sind unterschiedlich?
Viele Muslime knien auf dem Boden und sprechen ein Friedensgebet gegen Extremismus in Kreuzberg, Berlin in Deutschland. Islamische Verbände halten Friedensgebet vor der Mevlana-Moschee ab, vor der vor einem Monat ein Brandanschlag verübt wurde. Eine Aktion des Zentralrats der Muslime, der Türkisch-Islamischen Union (Ditib), des Islamrates und dem Verband der Islamischen Kulturzentren (VIKZ).
Muslime beim Friedensgebet in Kreuzberg, Berlin.© imago/Mike Schmidt
Behr: Ja, das ist durchaus unterschiedlich, weil es Moscheen gibt, die sich auf der einen Seite sehr stark etwa auf gottesdienstliche Rituale konzentrieren – da wird dann das Freitagsgebet abgehalten, das wird dann von einem solchen Imam geleitet. Auf der anderen Seite gibt es Moscheen, die sind stärker sozial integriert. Sie haben Elemente der sozialen Arbeit, eine aktive Jugendarbeit, Beratungsstellen, und von daher kann sich dann das Arbeitsfeld eines Imams oder einer Imamin reichlich ausweiten, da gibt es Unterschiede. Einen zweiten Unterschied gibt es in der Sprache.
Wir wünschen uns natürlich Imame, die fließend Deutsch sprechen und die mit den Lebenswirklichkeiten etwa muslimischer Jugendlicher, die zu einer solchen Moschee gehören, vertraut sind – da gibt es auch große Unterschiede in Deutschland. Wir versuchen ja gerade, etwa über die theologischen Ausbildungsgänge an den Universitäten, da ein Gegengewicht zu setzen, indem wir ein volltheologisches Studium anbieten, das zwar nicht direkt Imaminnen und Imame ausbildet, das aber eine Grundlage, eine Voraussetzung hinsichtlich der theologischen Kompetenzen darstellt, als Imam nicht nur in der Moschee zu arbeiten, sondern auch die Fragen, die die Menschen haben, theologisch zu reflektieren.

Ditib in der Identitätskrise

Weber: Da würde ich gleich gern noch mal drauf zurückkommen, zuerst aber noch mal die Frage nach der Gemeindearbeit: Hat das auch etwas damit zu tun, dass sich die Gemeinden hier einfügen und es hier eben so was wie Jugendarbeit, Beratungsstellen und so weiter von kirchlicher Seite gibt und das dann auch auf muslimischer Seite aufgebaut wird, oder ist das auch was, was in den Herkunftsländern durchaus existiert?
Behr: Ja, das ist eine spannende Frage, die Sie da aufreißen. Diese Moscheegemeinden sind ja zunächst einmal in privater Trägerschaft von Laien. Jemand, der einen Moscheevorstand führt, ist ja nicht der Imam, sondern ist der Vorsitzende des Trägervereins. Und von diesen Vereinen aus gibt es unterschiedlich starke und schwache Rückbindungen an Herkunftsländer – nehmen Sie mal etwa die Ditib-Moscheen in Deutschland und ihre Bindungen oder Rückbindung an die Türkei. Und jetzt gibt es folgendes Problem: Die Kulturgeschichte der Moscheegemeinden in Deutschland hängt ja sehr stark zusammen mit der Arbeitsmigration Anfang der 60er Jahre. Anfangs waren diese islamischen Kulturvereine sehr stark der Idee verpflichtet, so etwas wie heimatliche Kultur zu bewahren – man nennt es in der Wissenschaft Kulturtransmissionsmotiv.
Das kollidiert momentan mit den jungen Musliminnen und Muslimen der dritten Generation, die sich stärker an religiöser, theologischer Progression orientieren und diese Moscheen nicht mehr so sehr als Kultur- oder Migrationsvereine sehen, sondern als richtige Religionsgemeinschaften. Und da kann man sagen, dass etwa ein Verein wie Ditib sich gegenwärtig in so etwas wie einer Identitätskrise befindet, weil sie auf der einen Seite nicht mehr richtig und ganz postmigrantische Organisationen sind und noch nicht richtig Religionsgemeinschaft von ihrem religiösen Profil her. Das ist sehr beweglich momentan, das wird in 10, 15 Jahren anders aussehen als heute.
Freitagsgebet in der Dar Assalam Moschee in Berlin-Neukölln. Im Bild: Gläubige beim privaten Gebet vor dem Gottesdienst
Freitagsgebet in der Dar Assalam Moschee in Berlin Neukölln.© imago / Christian Ditsch
Weber: Und – Sie haben das schon angesprochen – es geht eben auch um die Frage der theologischen Kompetenz sozusagen. Wenn ich das richtig verstehe, in der Tradition des Islam ist es nicht unbedingt nötig, dass ein Imam ein voll ausgebildeter Theologe ist, sondern es geht erst mal darum, dass er weiß, wie das Gebet anzuleiten ist. Aber das heißt jetzt nicht, dass er den Koran auswendig können muss und auch nicht alle vorhandenen Korankommentare.
Behr: Ja, das ist richtig, allerdings hängt das ein bisschen am Theologiebegriff. Wir haben in den islamischen Regionen dieser Welt so etwas wie eine Religionsgelehrsamkeit, die etwa sich sehr stark an lebenspraktischen Fragen orientiert, wo Menschen mit Fragen an einen Imam herantreten, wo sie sich eine konkrete handlungsleitende Antwort erwarten. Beispielsweise: Ist das Hühnchen aus dem Supermarkt halal, auch wenn es nicht halal geschächtet wurde? Auf der anderen Seite haben wir eine Theologie als eine philosophische Reflexionsebene, die Antworten gibt auf existenzielle Lebensfragen, nach Zukunftsverunsicherung, nach Leid, Frage nach Beheimatung und so weiter und so fort.
Und hier geraten die Imaminnen und Imame in Deutschland deutlicher sozusagen in das Koordinatensystem vor allen Dingen jüngerer Muslime, die mit Fragen an Imaminnen und Imame herantreten, von denen sie überfordert sind, weil sie mit Blick auf die Tradition des Islams keine Matrix haben, solche Fragen zu beantworten – nehmen wir mal Fragen nach Freundschaft und sexueller Orientierung beispielsweise. Und da hat eine Theologie als neue Disziplin in Deutschland – ich spreche von islamischer Theologie – die Aufgabe eines Übersetzungsprozesses zwischen der Tradition in Schrift, Wort und Bekenntnis einerseits und der Situation von hier lebenden Musliminnen und Muslimen andererseits.

Verbindung von Islam und sozialer Arbeit

Weber: Es gibt ja fünf verschiedene Zentren für islamische Theologie an deutschen Universitäten, eins davon in Frankfurt am Main, wo Sie lehren. Was kann jetzt an diesen Zentren alles gelernt werden, was nachher für den Beruf des Imam wichtig ist? Sie haben es schon angedeutet, die theologische Kompetenz, aber lernt man da auch so was wie Seelsorge?
Behr: Ja, die Standorte bieten mit leichten Unterschieden in den jeweiligen Profilen Bachelor- und Master-Studiengänge in islamischer Theologie an, es wird auch islamisch-religiöse Studien genannt, das ist ungefähr das Gleiche – mit dem Unterschied der Bekenntnisorientierung in Abgrenzung etwa zur Islamwissenschaft. Da gibt es dann Modulbereiche, in denen Studierende Schwerpunkte setzen können, etwa gegenwartsbezogene Religiositätsforschung, oder wir haben jetzt in Frankfurt mit einem Modul begonnen, in dem im Rahmen von 30 Credit Points soziale Arbeit und Grundlagen sozialer Arbeit vermittelt werden, in Kooperation mit der Fachhochschule. Andere Universitäten bieten bereits einen Vollstudiengang in der Verbindung Islam und soziale Arbeit an, es gibt Schwerpunkte in Gemeindepädagogik und natürlich das Lehramt für angehende Religionslehrerinnen und Religionslehrer des Fachs Islam in der öffentlichen Schule. Und damit reagieren die Universitäten übrigens in guter Absprache auch mit den Religionsgemeinschaften auf die Bedürfnisse sich neu eröffnender Berufsfelder.
Weber: Aber es ist ja nun doch kein Zufall, dass in der evangelischen Kirche an die theologisch-universitäre Ausbildung ein Vikariat anschließt, wo die angehenden Pfarrerinnen und Pfarrer ganz in der Praxis stehen, einerseits also in der Gemeinde sind, andererseits auch noch im Predigerseminar, wo sie sozusagen in ihrem Lernen begleitet werden, aber eben die Universität und die Bücher doch ziemlich weit weggerückt sind und die praktische Arbeit in der Gemeinde erst mal noch erlernt werden kann. Wo können denn das angehende Imame erlernen?
Behr: Ja, das ist auch ein wichtiger Punkt. Sie haben ja diese sogenannten zweiten Ausbildungsphasen auch in anderen Berufen, im Lehramt etwa oder bei Ärztinnen, Ärzten oder in den Rechtswissenschaften. Hier käme es sozusagen darauf an – Sie merken schon, ich spreche im Konjunktiv, das heißt, wir haben das noch nicht richtig –, aus der Universität heraus die entsprechenden Kompetenzen in der beruflichen Anwendung und in den Berufsfeldern zu finden, in der konkreten Arbeit in der Gemeinde. Es muss nicht nur eine Gemeinde sein, es können auch andere Bereiche sein. Es gibt einige größere Moscheeorganisationen, die bieten so etwas inzwischen an. Das heißt, die warten auf die Bachelor-Absolventinnen und -Absolventen der Universitäten, um sie dann im Grunde genommen in ihrer eigenen Gemeinde, die ja auch eine bestimmte Ausprägung hat hinsichtlich etwa der Lebensstile und Alltagskulturen, wenn Sie so wollen nachzusozialisieren.
Es gibt auch Studierende, die direkt mit diesem Berufswunsch in das Studium gehen. Das Problem ist aber, dass sie, wenn Sie das mit den Kirchen vergleichen wollen, so wie Sie das gerade gemacht haben, brauchen Sie eine finanz- und schlag- und tatkräftige Organisation, die das stemmen und finanzieren kann. Nun sind diese Moscheegemeinden alle über dem Grassroots-Level wirklich auf Laien- und Orts- und Regionalbasis entstanden, und sie haben noch nicht diese strukturelle Sicherheit, auch hinsichtlich der Nachhaltigkeit einer solchen Struktur wirklich fundiert so etwas anzubieten, aber das ist in Arbeit, das entwickelt sich.

Die Moscheevereine sind zu pragmatischen Lösungen bereit

Weber: Aber jetzt haben Sie gar nicht von den großen Islamverbänden gesprochen, die es ja durchaus gibt, in denen sich Moscheegemeinden zusammenschließen. Also gut, es ist umstritten, wie viel Prozent der Muslime in Deutschland sie wirklich repräsentieren, aber da ist doch eine gewisse Struktur da und ja auch der Wille zur Einflussnahme auch schon auf die Besetzung der Professuren an den verschiedenen Zentren.
Behr: Ja, das sind jetzt verschiedene Themen. Ich sprach natürlich von den Moscheevereinen, den Begriff Verbände würde ich mal vermeiden. Aber noch mal mit Blick auf eine solche Anschlussausbildung im Rahmen eines, wie Sie es nennen, Vikariats – ein findiger Geist wird da noch irgendeine arabische Bezeichnung für finden –, das wird zum Beispiel schon in Köln angeboten von der Ditib, und Ditib ist sicherlich eine großen Player in diesem Zusammenhang. Das andere, was Sie ansprechen, ist die Frage des Nihil obstat bei der Berufung von Professorinnen und Professoren. Da gibt es Mitwirkungsrechte – ich selbst bin nach zehn Jahren Professur in Erlangen-Nürnberg, wo ich sozusagen frei flottierender Geist war, nach Frankfurt berufen worden unter der Voraussetzung, dass die beiden in Hessen anerkannten islamischen Religionsgemeinschaften das Nihil obstat erteilen.
Sie merken schon, ein Professor, zwei Religionsgemeinschaften, die auch in einem gewissen theologischen Dissens zueinander stehen, die haben das trotzdem gemacht, und ich bin weder in der einen noch in der anderen Mitglied. Das zeigt schon mal, wie hoch die Bereitschaft solcher Vereine ist zu pragmatischen Lösungen, um Gegenwartsprobleme zu lösen. Und in dem Zusammenhang würde sicherlich, denke ich mal, ein solches islamisches Vikariat auch dazu führen, dass eine Gemeinde sagen kann, die und der, die da jetzt ausgebildet sind, die atmen sozusagen den Geist unseres Hauses, und damit könnte die Akzeptanz etwa in den Ortsgemeinden erhöht werden – ich denke, dass das auch eine Rolle spielt –, als wenn die frisch von der Universität kommen und da bloß akademisch auftreten.
Weber: Es soll ja auch in Berlin ein neues Zentrum für islamische Theologie angesiedelt werden. Ob das nun wirklich im Wintersemester 2018/19 beginnen kann, ist noch unklar, unter anderem, weil eben diese Stellen besetzt werden müssen und weil klar werden muss, wer da in diesem Beirat sitzt. Aber ist das eine Chance, so ein neues Zentrum noch mal praktischer auszurichten und noch mal mehr diese Bedürfnisse einer Imam-Ausbildung oder zumindest einer Vorbereitung auf den Beruf des Imams zu berücksichtigen?
Behr: Ja, das ist ein Aspekt. Die HU und der Kollege Borgolte sind da sehr optimistisch, das zu stemmen, und mit den graduierten Absolventen des Mercator-Kollegs islamische Theologie stehen ja nun eine Reihe von interessanten Leuten jetzt zur Disposition, um sie auf solche Stellen zu berufen. Ich habe mich ja im "Tagesspiegel" zu diesem ganzen Projekt geäußert im Juni – ich bin der Meinung, dass man bei einem solchen Projekt nicht nur auf Imame und Religionslehrer blicken sollte, sondern auf das spannende intellektuelle und soziale Kapital der gesamten muslimischen Bevölkerung einer Stadt wie Berlin.
Von daher fände ich es klüger, wenn man solche Professuren Zug um Zug und nicht alle auf einen Schlag besetzt, um erst mal zu sondieren, was tatsächlich die spirituellen religiösen und sozialen Bedürfnisse von Musliminnen und Muslimen in Berlin und Umgebung sind, bevor man da so eine Art systematische Theologie von oben nach unten indoktriniert und dann sagt, jetzt haben wir hier eine volltheologische Ausbildung, dann guckt man auf die Imam-Ausbildung und die Religionslehrer-Ausbildung und geht im Grunde genommen an der sozialen Wirklichkeit einer solchen Stadt vorbei. Denn Musliminnen und Muslime sind nicht nur Leute, die in Moscheen gehen.
Die überwiegende Mehrheit der Muslime in Deutschland, die sich durchaus religiös bewusst im Islam positionieren, haben überhaupt keinen Kontakt zu Moscheen und sehen sich auch nicht durch die Verbände, die dann auch in solchen Beiräten sitzen, vertreten. Nichtsdestotrotz haben diese Vereine und Verbände eine Erfahrung und Kompetenz, auch für Musliminnen und Muslime zu sprechen, die nicht Mitglied in ihren Vereinen sind – man darf das nicht unterschätzen. Und von daher sehe ich das, was da in Berlin hochgezogen wird, durchaus optimistisch. Ich würde mir nur wünschen, dass man hier jetzt nicht einfach noch mal das wiederholt, was man die letzten Jahre an den anderen Standorten gemacht hat, sondern gerade in Berlin sich mal ein innovativeres Konzept überlegt, wie man islamische Theologie organisieren kann.
Weber: Da kann man gespannt sein. Vielen Dank, Harry Harun Behr, Professor für Erziehungswissenschaft mit Schwerpunkt Islam an der Universität Frankfurt und Sprecher der Deutschen Gesellschaft für Islamisch-Theologische Studien.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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