Moralische Orientierung

Ethik für alle Lebensfragen

Der ehemalige Vorsitzende des Rats der Evangelischen Kirche, Wolfgang Huber, in der Jesus Christus Kirche in Dahlem.
Der ehemalige Vorsitzende des Rats der Evangelischen Kirche, Wolfgang Huber, in der Jesus-Christus-Kirche in Dahlem © picture alliance / dpa / Roland Popp
Von Andreas Malessa · 29.03.2014
Wolfgang Huber ist vielleicht die deutlichste Stimme, wenn es um evangelische Antworten auf Fragen der Gegenwart geht. Sein jüngstes Buch heißt schlicht "Ethik" und verspricht Antworten auf "die Grundfragen unseres Lebens von der Geburt bis zum Tod".
Frau: "Groß, schlank, dunkle Haare, Brille. Ansonsten finde ich, dass er sehr sympathisch ist."
Mann: "Geschulter Professor, geschult in Dialektik und Rhetorik!"
Frau: "War mal der EKD-Vorsitzende. Sonst weiß ich nicht viel über ihn, außer dass er ein gutaussehender Mann ist."
Mann: "Dass er ein sehr eindrücklicher, interessanter Redner ist, dass er sehr tiefgründig formulieren kann."
Frau: "Ja, der war der Vorgänger von der Margot Käßmann."
Frau: "Aber wie er sich jetzt genau genannt hat, weiß ich net."
Wolfgang Huber nennt er sich. 71 Jahre alt, emeritierter Theologie-Professor. 15 Jahre war er evangelischer Bischof in Berlin, 6 Jahre lang Ratsvorsitzender der EKD. Er ist Mitglied des Deutschen Ethikrates, war zweimal für das Amt des Bundespräsidenten im Gespräch, ist ein vielgefragter Vortragsredner und – Buchautor.
Ethik formuliert die Maßstäbe des Menschlichen. Ethik ist die Reflexion menschlicher Lebensführung. In diesem Buch wird Moral als die Frage nach dem, was richtig ist, und Ethik als die Frage nach dem, was gut ist, gleichgesetzt. Man kann das Thema so behandeln, dass man vom Gottesbezug des Menschen absieht. Man kann aber die Endlichkeit und Fehlbarkeit des Menschen auch zum Anlass nehmen, das Gottesverhältnis des Menschen ausdrücklich mit einzubeziehen. Die hier vorgelegte Ethik geht den zweiten Weg.
"Hier vorgelegt" hat Wolfgang Huber ein Buch namens "Ethik", das im Untertitel nicht weniger verspricht als "die Grundfragen unseres Lebens von der Geburt bis zum Tod" zu behandeln. In 20 Kapiteln auf 310 Seiten.
"Lassen sich Macht und Moral verbinden?"
"Es ist kein Ratgeberbuch in dem Sinn, dass Rezepte für Alltagsfragen dargeboten werden, aber es ist eine konkrete Ethik, die jeweils auch mit konkreten Lebenssituationen anfängt", sagt Wolfgang Huber, und seine Fallbeispiele sind in der Tat praktischer, als die Kapitel vermuten lassen: "Hat die Familie Zukunft ? Wie lässt sich Ungerechtigkeit abbauen? Was ist der Zweck der Wirtschaft?" zum Beispiel.
Oder: "Lassen sich Macht und Moral verbinden? Wie viel Verschiedenheit halten wir aus? Was hinterlassen wir unseren Nachkommen?" Das klingt ebenso umfänglich wie zufällig und wirft die Frage auf: Ist dies eine Ethik – im Sinne von "Hubers kleiner Katechismus" – oder schreibt er über Ethik ?
"Hei ! Die Alternative, ob es eine Ethik oder ein Buch über Ethik ist, hab ich mir so noch nicht gestellt. Aber es öffnet natürlich die eigenen Überlegungen der Leserinnen und Leser. Es soll sie anregen, selber Antworten zu finden, indem sie sich an den Antworten, die ich ihnen vorschlage, abarbeiten, sich damit auseinandersetzen, ihre eigenen Wege finden."
Hoffen auf mündige, mitdenkende, kritische Leser
Wolfgang Huber hofft auf mündige, mitdenkende, kritische Leser und ist darin ebenso typisch protestantisch wie professoral. Laienverständlich ist dieses Buch nur für den gehobenen Bildungsbürger. Aber natürlich gibt der Altbischof Antworten und montiert moralische Leitplanken. Nicht geschraubt und ohne rhetorischen Hammer fügt er sie akribisch plausibel zusammen: Gegen Abtreibung, aber für die Unterscheidung vorgeburtlicher Schutzwürdigkeit von den personalen Rechten eines geborenen Menschen. Für soziale Marktwirtschaft, aber gegen die moralischen und ökologischen Verwüstungen des Turbokapitalismus. Gegen assistierten Suizid, aber für das Recht, auf Medizintechnik zu verzichten. Für vertrauliche Geburt und Adoption, also gegen Babyklappen. Für militärische Einsätze zur Verhinderung von Völkermord, aber gegen Waffenexporte in Krisengebiete. Welches Thema ist ihm am wichtigsten?
"Das Kapitel über Familie. Steht am Anfang. Nicht nur deshalb, weil es darüber gerade eine aktuelle Diskussion gegeben hat, sondern weil es meine Lebenswirklichkeit ganz stark bestimmt und ich gemerkt habe, dass es die Lebenswirklichkeit vieler Menschen weit stärker bestimmt, als sie unter Umständen öffentlich zugeben, und weil da vieles in Bewegung geraten ist und sich Menschen neu orientieren müssen."
Ethisch ist es zu bejahen, dass für gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften ein eigener Rechtsrahmen geschaffen wurde. Der verfassungsrechtliche Schutz für Ehe und Familie, Artikel 6 Absatz 1 des Grundgesetzes, strahlt auf die verschiedenen Lebensformen aus. Die herausgehobene Bedeutung von Ehe und Familie wird dadurch nicht gemindert.
"Jede ethische Frage hat eine persönliche Seite"
Wolfgang Hubers "Ethik"-Buch ist weder Plädoyer noch Gegenrede zur aktuellen "Orientierungshilfe" der EKD, liefert aber im Kapitel "Familie" jenes moraltheologische Futter nach, das viele in dem umstrittenen Kirchenpapier vermissten. Wer sich allerdings an den Wolfgang Huber der turbulenten evangelischen Kirchentage in den friedensbewegten 80er-Jahren erinnert, könnte vermissen, dass in seinem "Ethik"-Buch Krieg und Frieden, Ökologie und soziale Gerechtigkeit keine herausgehobenen Schwerpunkte mehr sind. Finden ethische Konflikte heutzutage nicht mehr im Bundestag, sondern in Supermärkten und Krankenhäusern statt?
"Nein. Die Alternative ist falsch. Weil es in all diesen Fragen auch immer um Fragen der Gerechtigkeit und der Gestaltung unserer Institutionen geht. Ich breche ja gerade diese Vorstellung auf, als seien dies Fragen der persönlichen Lebensführung – Krieg und Frieden aber dann sei eine Frage der großen Politik. Das stimmt heute gar nicht mehr. Jede ethische Frage hat eine persönliche Seite. An den großen Fragen von Krieg und Frieden, von Menschenrechten und Umwelt, von Wirtschaft, Arbeit und Armut – die ja alle in diesem Buch ziemlich intensiv vorkommen - auch jeweils die persönliche Seite zu sehen, das ist auch eine Pointe des Buches."
In der katholischen Tradition entfaltet sich Ethik in einer stärker gesetzesethischen Sozial-Lehre. In der evangelischen Tradition nimmt diese Reflexion den Charakter einer Sozial-Ethik an, deren Ziel nicht in der Befolgung normativer Vorgaben besteht, sondern in der Befähigung zum eigenen ethischen Urteil.
"Pointiert protestantisch“ könnte ein Buchhändler neben dieses Buch ins Schaufenster schreiben. Oder das Schild aufstellen "Huber, der große Moralist"?
"Das würde ich wegnehmen, das Schild. 'Der moralisch Nachdenkliche' würde ich stattdessen hinstellen."
Huber, der Moralapostel?
"Apostel gab‘s nur zwölf. Ethiker gibt‘s mehr."

Wolfgang Huber: "Ethik. Die Grundfragen unseres Lebens. Von der Geburt bis zum Tod."
C. H. Beck-Verlag München 2013,
310 Seiten, 19,95 Euro