Moralisch entfesselter Liberalismus

08.11.2011
Mehr als ein Dutzend Bücher des ägyptischen Literatur-Nobelpreisträgers Nagib Machfus hat der Schweizer Unionsverlag schon auf Deutsch publiziert, fünf Jahre nach dem Tod des Autors kommt ein weiteres hinzu: "Das junge Kairo" ist eines seiner frühen Werke und bereits 1945 erschienen.
Besonders im Hinblick auf die gegenwärtige Situation in Ägypten nimmt man mit Erschrecken die Kontinuität des Elends und der Korruption am Nil wahr; und staunt über die Souveränität, mit der dieser Erzähler, bei Abfassung des Buchs um die dreißig Jahre alt, die moralische Verfassung seines Landes schildert und die Koordinaten der kommenden Krisen vor dem staunenden Leser der Zukunft ausbreitet, ohne sich zu einer Wertung hinreißen zu lassen.

"Ein Journalist muss zuhören, nicht selbst reden, besonders in der heutigen Zeit", legt Machfus sein Credo einem der vier Freunde in den Mund, die am Anfang des Buchs ein Schicksal teilen, aber kaum, dass sie ihr Studium beendet haben, in nicht mehr zu vereinbarenden Lebensentwürfen auseinanderdriften, bis sie schließlich nur noch "Freundfeinde" sind. Der eine ist Sozialist und glaubt an die Gesellschaft. Der andere ist beseelt von einem emphatischen, allmählich auch in den politischen Raum ausgreifendem Gottglauben: "Tatsächlich sehe ich das Gute als Essenz der Seele, während ihr es im Zusammenhang mit einem Stück Brot seht, und wenn das Brot sauber verteilt wird, gibt es kein Böses mehr".

Die eigentliche Hauptperson des Buchs ist aber Machgub, derjenige der Freunde, der an gar nichts mehr glaubt. Als sein Vater nach einem Schlaganfall arbeitsunfähig wird, nötigt ihn die Armut dazu, seine Philosophie des moralfreien Liberalismus in die Tat umzusetzen. Aber die undurchdringlichen sozialen Strukturen, bei denen es nur auf Beziehungen ankommt, lassen ihm trotz seiner Rücksichtslosigkeit keine Chance. Bis ein flüchtiger Bekannter ihm einen teuflischen Pakt vorschlägt, der ihm die Beamtenlaufbahn ermöglicht: Er soll die Geliebte seines Chefs heiraten und diesem einmal in der Woche seine Frau überlassen.

Der Plot wirkt konstruiert, ist aber vor dem Hintergrund der verfahrenen Lage Ägyptens glaubwürdig. Das Buch spielt in den dreißiger Jahren, einmal wird Hitlers Machtergreifung und des Öfteren auch die Abhängigkeit der ägyptischen Regierung vom britischen Hochkommissar erwähnt. "Das junge Kairo" ist dasjenige Werk, mit dem nach den historischen Romanen die realistische Phase in Machfus’ Schreiben beginnt.

Präzise Milieuschilderungen wechseln mit den Gesprächen der Freunde oder den Reflexionen Machgubs ab, der trotz seines zur Schau gestellten Zynismus immer wieder mit seiner Situation hadert. Machfus hatte, auf welchen Umwegen auch immer, seinen Nietzsche gründlich gelesen. Aber auch seinen de Sade, dessen Bösewichte den entfesselten Egoismus auf ähnlich penetrante Weise predigen wie Machgub, mit dem Unterschied nur, dass sie es aus einer Machtposition heraus tun. Der ungleiche Deal hingegen, auf den sich Machgub einlässt, demonstriert schließlich die Untauglichkeit seiner Philosophie. Vom moralisch entfesselten Liberalismus wird immer nur der profitieren, der ohnehin schon zu den Gewinnern zählt – eine Lehre, wem muss man es sagen, auch für unsere Zeit.

Besprochen von Stefan Weidner


Nagib Machfus: Das junge Kairo
Aus dem Arabischen von Hartmut Fähndrich
Unionsverlag, Zürich 2011
254 Seiten, 19,90 Euro


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Buchempfehlungen im November - Lesetipps aus der Literaturredaktion

"Kritik" vom 1.2.2008: Das Fernweh ein Turban - Nagib Machfus: "Das Buch der Träume", Unionsverlag, Zürich 2007, 191 Seiten

"Kritik" vom 28.2.2007: Liebesgeschichte aus dem alten Ägypten - Nagib Machfus: "Radubis", Unionsverlag, Zürich 2006, 267 Seiten

"Kritik" vom 10.8.2005: Späte Würdigung - "Cheops" von Nagib Machfus erscheint auf Deutsch
Nagib Machfus, ägyptischer Schrifsteller und Nobelpreisträger für Literatur (1911-2006)
Nagib Machfus, ägyptischer Schrifsteller und Nobelpreisträger für Literatur (1911-2006)© AP
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