Moische Kulbak: "Die Selmenianer"

Jüdisches Leben unter Hammer und Sichel

Buchcover Moische Kulbak: "Die Selmenianer"
Cover des Buches: "Moische Kulbak: Die Selmenianer" auf sowjetischer Flagge © Die Andere Bibliothek / imago / Peter Widman
Von Carsten Hueck · 04.01.2018
Moische Kulbak war Anhänger der Oktoberrevolution. In "Die Selmenianer" beschreibt er den Zusammenstoß traditioneller jüdischer Lebensweise mit Geist und Ungeist der neuen Zeit. Nun liegt der Roman in einer neuen Übersetzung vor.
Ende 1929 war Stalin endgültig Sieger der Machtkämpfe innerhalb des Politbüros der Bolschewiki. Im großen Stil begannen Säuberungen und Terror. Lenins Mitstreiter der ersten Generation wurden ebenso liquidiert wie Vertreter gesellschaftlicher Eliten. Auch Juden gerieten zunehmend in Gefahr. Den Juden in Weißrussland, deren Sprache und Identität bis dahin gepflegt und deren Traditionen gefördert wurden, bedeutete 1930 die weißrussische Akademie der Wissenschaften auf 120 Seiten, dass genau dies nun als faschistisch und konterreaktionär angesehen würde.
Ein Star der jiddischen Literatur jener Zeit war Moische Kulbak, damals Mitte 30. Geboren zwischen Minsk und Wilna, pendelte er immer wieder zwischen beiden Städte und lebte auch einige Jahre in Berlin. Ab Dezember 1929 erschien im "Stern", einer der einflussreichsten Zeitschriften für jüdische Literatur, in monatlicher Fortsetzung Kulbaks Roman "Die Selmenianer" – der nun in einer neuen Übersetzung auf Deutsch erschienen ist.

Tradition trifft auf neue Zeit

Kulbak, populärer Dichter und Anhänger der Oktoberrevolution, beschreibt darin in Form eines modifizierten jiddischen Schtetlromans den Zusammenstoß traditioneller jüdischer Lebensweise mit Geist und Ungeist der neuen Zeit. Er schildert anhand einer kleinen Siedlung und ihrer Bewohner soziale Wirklichkeit – mit Humor, Wärme und Anspielungen auf Heine, Shakespeare, Babel und Tschechow.
Die Hauptfiguren, Kinder und Kindeskinder des alten Reb Selmele, sind Handwerker mit proletarischen Zügen: "Selmenianer sind schwarzhaarig und knochig gebaut. Sie haben eine breite, niedrige Stirn, fleischige Nasen und Grübchen in den Wangen."
Vier Brüder und deren Kinder bilden unterschiedliche Strömungen innerhalb des Judentums ab. Itsche, der Schneider, kann sich durchaus für den Fortschritt erwärmen, er schätzt Radio und Kino und auch die Mechanik seiner Nähmaschine. Sein Sohn Bere, der in der Roten Armee gekämpft hat, modernisiert das Zusammenleben der Gemeinschaft, sorgt für die Elektrifizierung der Häuser und bringt seiner Mutter Lesen und Schreiben bei. Er verzichtet bei seiner Heirat auf das traditionelle Ritual, nennt seinen Sohn Marat und weigert sich, ihn beschneiden zu lassen.

Kulbak wird 1937 erschossen

Doch gibt es auch Juhde, einen anderen Schneider, der sich Natur und Tieren verbunden fühlt, der gerne philosophiert und musiziert. Er steht mit seiner eher chassidischen Wesensart in Opposition zu Moderne und Bolschewismus. Dass Kulbak ihn sterben und am Ende den ganzen Ort untergehen lässt, rettete dem Autor jedoch nicht das Leben.
Denn zwischen Beginn und Beendigung des Romans 1935 lag der erste Kongress des sowjetischen Schriftstellerverbandes, der den sozialistischen Realismus zur Doktrin erklärte. Sozialistische Helden gibt es unter den Selmenianern aber nicht. Ein willkommener Anlass für die stalinistische Kulturpolitik, auch Moische Kulbak ins Visier zu nehmen. Da er nicht das Verschwinden der Juden in seinem Roman feierte, wurden die "Die Selmenianer" als ideologisch rückständig kritisiert. Der Autor selbst wurde unter fadenscheinigen Vorwänden 1937 erschossen.
Heute liest man den Roman als historisches Zeugnis und als kraftvollen, poetischen Abschied von einer Welt, deren Untergang dem Autor schon schmerzhaft bewusst war.

Moische Kulbak: "Die Selmenianer"
Aus dem Jiddischen übertragen und mit Anmerkungen versehen von Niki Graca und Esther Alexander-Ihme
Mit einem Nachwort von Susanne Klingenstein,
Die Andere Bibliothek, Berlin 2017
397 Seiten, 42 Euro