Mörderjagd mit Suchtfaktor

13.08.2013
Ein New Yorker Schriftsteller mit Schreibhemmung bittet seinen berühmten Professor um Hilfe. Dann wird in dessen Garten eine Mädchenleiche gefunden. Joël Dicker macht aus diesem Erzählstart einen außerordentlichen Roman, der gleichzeitig Krimi und Romanze, Gesellschaftsdrama und Literatursatire ist. Aufregend spannend!
Ein New Yorker Schriftsteller, der unter einer Schreibkrise leidet, sein Mentor, der ein dunkles Geheimnis hütet, eine Kleinstadt im US-Staat New Hampshire mit bewegter Vergangenheit: Der Plot könnte von Donna Tartt stammen oder von John Irving – aber dahinter steckt ein junger Autor aus Genf namens Joël Dicker, der den angloamerikanischen Tonfall perfekt beherrscht.

Dickers Protagonist Marcus Goldman sucht Hilfe bei seinem ehemaligen Professor, dem berühmten Autor Harry Quebert, der sich in das Städtchen Aurora zurückgezogen hat. Dann wird in dessen Garten die Leiche eines ermordeten Mädchens gefunden: Es handelt sich um die 15-jährige Nola, die 1975 verschwand und mit der um zwanzig Jahre ältere Quebert damals ein Verhältnis hatte. Er wird verhaftet, sein Ruf ist ruiniert, ihm droht die Todesstrafe, und Marcus begibt sich nach Aurora, um Nachforschungen anzustellen.

Was auf den ersten Blick wie ein schlichter "Whodunnit" wirkt, entpuppt sich als komplexes Werk mit mehreren Ebenen: Goldmans‘ Verleger bestürmt den Autor, seine Recherchen literarisch zu verwerten, und nach einigem Zögern sagt dieser zu. Er gerät damit in den Sog eines unbarmherzigen Literaturbetriebs, den Dicker mit lustvoller Ironie darstellt. Überhaupt geht es auch um das Schreiben, um die Frage, warum man schreibt: "Schriftstellerisches Talent", sagt Quebert zu Goldman, "ist nicht etwa deshalb eine Gabe, weil man vernünftig schreiben, sondern weil man seinem Leben dadurch einen Sinn geben kann." Nicht umsonst wird jedes Kapitel mit einem schriftstellerischen Ratschlag eingeleitet – etwa: "Ein Buch zu schreiben ist, wie jemanden zu lieben: Es kann sehr wehtun."

Mit großem erzählerischem Talent treibt Joël Dicker die Handlung voran
Harry Quebert spricht aus Erfahrung: In Rückblenden wird seine geheime Beziehung zu Nola aufgerollt, anhand derer Dicker die Frage nach der Liebe und ihren Erscheinungsformen stellt, nach gesellschaftlichen Tabus und verbotenen Leidenschaften. Seine Charaktere sind ambivalent und haben ihre Geheimnisse – war Nola eine durchtriebene Lolita oder eine wahrhaft Liebende? Und ist Marcus Goldman womöglich nur ein Blender? Welche Rollen spielen der reiche Elijah Stern und sein Fahrer Luther Caleb? Wer schickt Goldman anonyme Drohbriefe? Und warum fand man bei Nolas Leiche das Originalmanuskript von Queberts gefeiertem Roman "Der Ursprung des Übels"? Mit großem erzählerischem Talent treibt Joël Dicker eine Handlung voran, die einen unwiderstehlichen Sog entwickelt und die sich auch über mehr als 700 Seiten nicht abnutzt.

Die geschickte Dramaturgie tut ein Übriges: Gerade dann, wenn man alles durchschaut zu haben meint, liefert Joël Dicker eine unerwartete Volte, die die Ereignisse in einem ganz anderen Licht erscheinen lässt, und am Schluss ist mehr aufzuklären als ein Mord. Es ist ein außerordentlicher Roman, gleichzeitig Krimi und Romanze, Gesellschaftsdrama und Literatursatire. "Ein gutes Buch, Marcus, ist ein Buch, bei dem man bedauert, dass man es ausgelesen hat", lautet Queberts letzter Rat an seinen Schüler. Auf Joël Dickers Roman trifft genau das zu.

Besprochen von Irene Binal

Joël Dicker: Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert
Aus dem Französischen von Carina von Enzenberg
Verlag Piper, München 2013
736 Seiten, 22,99 Euro