Mobiles Arbeiten bei Daimler

Das Büro an jedem Ort

Ein Geschäftsmann sitzt im Anzug auf einer Wiese und telefoniert mit dem Handy, vor ihm Laptop und Ringbuch.
Mobil zu arbeiten ist beliebt: In einer von der Gewerkschaft IG Metall in Auftrag gegebenen Umfrage gaben 85,6 Prozent an, flexibler arbeiten zu wollen. © imago/blickwinkel
Von Uschi Götz · 12.06.2017
Arbeiten auf dem Spielplatz, im Schwimmbad oder im Wartezimmer: Seit einem Jahr können rund 150.000 Beschäftigte bei Daimler in Stuttgart ihre Aufgaben mobil erledigen. Arbeitgeber und Betriebsrat ziehen eine positive Bilanz. Die Gewerkschaft sieht allerdings auch Gefahren.
"Die Arbeit, das Leben, das Arbeitsleben. Alles unter einen Hut zu bekommen, ist oft nicht leicht. Die Daimler AG ermöglicht ihren Mitarbeitenden deshalb vielfältige Arbeitszeitmodelle, die eben das individuell ermöglichen."
Immer mehr Mitarbeiter bei Daimler arbeiten mobil und bestimmen ihre Arbeitszeiten selbst. Ein-, höchstens zweimal in der Woche ist die Marketing- und Kommunikationsexpertin Nicole Smit in Stuttgart-Untertürkheim, dem Stammsitz des Unternehmens anzutreffen. Sie leitet eine Arbeitsgruppe die sich heute in Untertürkheim trifft. Mit der Gruppe plant sie zurzeit eine Christopher-Street-Day-Trucktour durch deutsche Städte. Wo jeder Mitarbeiter seinen Job macht, spielt keine Rolle. Nur ab und zu will man sich leibhaftig begegnen:
"Ich arbeite ja auch in einem Team und da ist es schon wichtig, dass man sich ab und zu mal an einen Tisch setzt - oder, was auch sehr gut ist, aber auch das muss organisiert werden, ist ein gemeinsames Mittagessen, um sich auszutauschen und den Kontakt zu halten."
Bewusst hat sie sich für einen Arbeitsplatz entschieden, der ihr die Wahl lässt, wo und wann sie arbeitet. Nicole Smit hat zwei kleine Kinder und arbeitet in Teilzeit 25 Stunden, die meiste Zeit davon zu Hause:
"Mein Büro ist eigentlich mein Rollkoffer, der steht neben mir. Da ist dann alles drin, was ich brauche, vom Ladekabel bis hin zum Laptop, hin zu einer kleinen Schreibtischunterlage, hin zu meiner Funkmaus. Das ist mein Schreibtisch, den habe ich immer und überall dabei. Und umgekehrt, meinen eigentlichen Schreibtisch hier im Büro, den können auch andere benutzen."
Auch Elmira Schmidt hat eine kleine Tochter und arbeitet voll mobil. An zentraler Stelle ist die 35-Jährige mitverantwortlich für das Daimler Projekt "Leadership 2020", jenes Programm, das den Paradigmenwechsel im Bereich der Arbeitskultur bei einem der größten Arbeitgeber in Deutschland begleitet und reflektiert. Elmira Schmidt entscheidet jeden Morgen neu, wo sie arbeitet:
"Das größte Entscheidungskriterium ist derzeit noch meine kleine Tochter. Natürlich gibt es ein paar Anforderungen oder auch ein paar Themen, wo ich dann auch ins Büro muss, aber meistens ist es tatsächlich so, dass ich es spontan situativ entscheide und dann auch sehr oft von zu Hause aus arbeite.
Elmira Schmidt nutzt dabei viele Gelegenheiten, um den Laptop aufzuklappen:
"Ich habe Arbeitsplätze, die fangen an, tatsächlich von morgens einfach im Bad, Spielplatz, bis hin zum Frisör, also so nach dem Prinzip: Überall und nirgends. Also bei mir ist es tatsächlich so, dass ich die Arbeit und auch das Leben außerhalb der Arbeit gar nicht mehr so trenne. Da werden die Grenzen verschmolzen. Das passt für mich, in meine derzeitige Situation hervorragend."

Keine Motoren zu Hause bauen

Um nicht pausenlos an die Arbeit erinnert zu werden, macht ihre Kollegin Nicole Smit immer wieder bewusst alle Geräte aus. In verabredeten Zeiten ist sie allerdings erreichbar, diese Spielregeln gelten für alle, die mobil arbeiten:
"Das ist ein anderes Arbeiten. Das ist definitiv kompakter und intensiver, das heißt, ich habe es dann selbst in der Hand, das Thema Ablenkung und Störfaktoren auszuschalten. Ich muss natürlich schon sehr stark darauf achten, meine Zeiten einzuhalten, und auch meine Grenzen zu setzen. Also Grenzen für die Arbeit und wiederum die Grenzen für die Familienzeit."
Seit einem Jahr können rund 150.000 Beschäftigte bei Daimler, so es ihr Arbeitsplatz zulässt, mobil arbeiten. Rund 1000 Mitarbeiter aus verschiedenen Bereichen haben in Workshops die verschiedenen Arbeitsformen diskutiert. Am Ende stimmten Betriebsrat und Unternehmensleitung einer Vereinbarung zu, die verschiedene Formen des mobilen Arbeitens regelt.
Daimler Personalvorstand Wilfried Porth zieht eine durchweg positive Zwischenbilanz nach rund einem Jahr, in dem nicht nur neue Arbeitsformen ausprobiert werden, sondern langsam auch eine neue Arbeitskultur im Unternehmen einkehrt. Doch, halten die neue Freiheit alle aus?
"Es muss ja der Chef und der Mitarbeiter aushalten. Der eine, der die Arbeit verteilt sozusagen und der andere, der sie erledigt, aber eben im flexiblen Zeitrahmen erledigt. Und ja, das halten die, die es bei uns machen aus, es gibt auch viele Wünsche das auch noch flexibler zu gestalten, im Rahmen der Möglichkeiten, die wir geschaffen haben."
Gab bisher die Zeiterfassung einem Arbeitsverhältnis den Rahmen, will man sich künftig bei Daimler noch mehr am Ergebnis orientieren. Deshalb spielt die Frage, ob die Beschäftigten tatsächlich so lange arbeiten, wie sie müssen, nahezu keine Rolle. Die Übergänge zwischen Arbeit und Privatem werden fließender, ob man bei Daimler seinen Job im Schwimmbad, im Café oder im Wartezimmer erledigt, spielt keine Rolle mehr.
"Das erfordert natürlich, dass Führungskräfte ihren Mitarbeitern Freiräume lassen, Dinge zu entscheiden, die sie in der Vergangenheit so alleine nicht entscheiden durften. Dass man keinen Wert mehr auf die Hierarchie legt, sondern auf die Frage der Kompetenz und der Verantwortung."
Die flexiblen Rahmenbedingungen enden allerdings an den Werktoren. In der Produktion herrschen nach wie vor andere Arbeitszeitregelungen:
"Es ist sicher einfach verständlich, dass einer aus der S-Klassen-Montage keine Heimarbeit machen kann. Dieses Thema des flexiblen Arbeitens, wenn es um Arbeiten außerhalb des Arbeitsplatzes geht, das ist natürlich dort sehr eingeschränkt."
Natürlich könne man keine Motoren zu Hause bauen, sagt auch Wolfgang Nieke, IG Metall - Betriebsratschef in Untertürkheim. Allerdings sollen nach dem Willen der Betriebsräte auch die Mitarbeiter in der Produktion mehr Flexibilität bekommen:
"Genau darum geht es, dass wir den Menschen dort auch eine Chance geben, zumindest ein Stück weit in der Zeit flexibel zu sein. Da geht es eher um eine individuelle Flexibilität, mal ein Stückchen früher zu gehen oder ein bisschen später anzufangen. Da haben wir aber auch eine Baustelle, die mit dem Unternehmen im Moment schwer zu regeln ist."

Gewerkschaft steht vor einem Dilemma

Doch grundsätzlich zieht auch Nieke eine positive Zwischenbilanz in Sachen mobiles Arbeiten. Bei der IG Metall sieht man indes die Gefahr, dass immer mehr Arbeit unbezahlt zu Hause erledigt wird. Unternehmen könnten ihre Anforderungen so hoch setzen, dass Mitarbeitern nichts anderes übrig bliebe, als in der Freizeit im Homeoffice zu arbeiten. Viele tarifliche Regelungen, wie etwa die 35-Stunden Woche oder Überstundenregelungen, könnten so unterlaufen werden. Bei Daimler regelt ein Zeiterfassungssystem die Frage, ob die vereinbarte Arbeitszeit auch eingehalten wird.
"Wir haben bisher in der offiziellen Lesart wenig Konflikte, wo man tatsächlich eingreifen und sagen muss, dem Vorgesetzten, das geht so nicht, das sind eher Einzelfälle."
Ende Juni wird die IG Metall auf einem bundesweiten Arbeitszeitkongress in Mannheim die Themen mobiles Arbeiten und Flexibilisierung diskutieren. Fragen, die auch in der nahenden Tarifrunde der Metall- und Elektrobranche eine Rolle spielen werden.
Die Gewerkschaft steht dabei vor einem Dilemma: Auf der einen Seite geht es darum die Grenzen zwischen Arbeit und Privatem nicht noch weiter aufzuweichen. Auf der anderen Seite gaben in einer von der Gewerkschaft in Auftrag gegebenen Umfrage 85,6 Prozent der Befragten an, flexibler arbeiten zu wollen. Vielleicht kommt eine mögliche Kompromisslösung aus Untertürkheim:
"Jetzt sage ich mal, aus unserer IG Metall Betriebsräte bei Daimler Sicht, das auch so ist, dass wir durchaus eine Regelung haben, an der sich die IG Metall möglicherweise orientieren wird."
Das hält zumindest Wolfgang Nieke für denkbar.
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