"Mittelreich" in Münchner Kammerspielen uraufgeführt

Josef Bierbichlers Erfolgsbuch in Erinnerungssplittern

Der Schauspieler Josef Bierbichler, aufgenommen 2009
Der Schauspieler Josef Bierbichler, aufgenommen 2009 © imago/DRAMA-Berlin.de
Von Christoph Leibold · 22.11.2015
Wie ein Musiktheater hat Anna-Sophie Mahler "Mittelreich" an den Münchner Kammerspielen inszeniert. Den Stoff aus Josef Bierbichlers Familienroman über den Umgang mit der NS-Zeit erzählt sie in Gedächtnishappen. Brahms' Requiem schreibt unausgesprochene Gedanken fort.
Deutschland nach dem zweiten Weltkrieg. In dieses "Mittelreich" zwischen Naziherrschaft und Wirtschaftswunderjahren, in diese Übergangszeit hineingeboren wird Semi, Sohn eines Gastwirts am Starnberger See. Eine neue Zeit soll anbrechen. Doch über der Gegenwart liegen die Schatten der Vergangenheit, die viele freilich am liebsten vergessen wollen.
Semi jedoch arbeitet sich ab am Gestern, das er zwar selbst nicht erlebt hat. Aber die Geschichte seiner Eltern ist auch seine Geschichte. Sie wird es spätestens beim Eintritt des Erbfalls, als die verstorbenen Eltern Semi eben nicht nur den Gasthof, sondern auch die verdrängte Familiengeschichte hinterlassen. Es ist keine Geschichte der großen Kriegsverbrechen, wohl aber eine des ganz 'normalen' menschlichen Versagens der kleinen Mitläufer im Krieg.
Die Beerdigung des Vaters – in Bierbichlers Familiensaga steht sie am Ende. Anna-Sophie Mahler dagegen hat sie zum Ausgangspunkt ihrer Inszenierung gemacht. Ihre Inszenierung wird damit zu einer Art Totenmesse. Oder zu einer Séance. Am Anfang sitzen die Schauspieler aufgereiht auf Stühlen und stimmen einen Choral aus Johannes Brahms' "Deutschem Requiem" an, das sich leitmotivisch durch den Abend zieht. Begleitet werden Sie dabei von zwei Pianisten und einem Paukisten im Orchestergraben, der zugleich das offene Grab des alten Seewirts ist.
Die Beerdigung des Vaters wird für Semi zum Auslöser, über eigene Herkunft und familiäres Vermächtnis nachzudenken. Während seine Eltern nur Vergessen wollten (nach der Heimkehr aus dem Krieg macht sein Vater unmissverständlich klar, dass er über das Erlebte nicht reden, sondern nur nach vorne blicken will), versucht Semi sich zu erinnern. Noch einmal stehen dabei die Toten auf und ziehen gleichsam vor seinem eigenen inneren Auge (und damit vor den Augen der Zuschauer) vorbei.
Requiem als Klangteppich über der Geschichte
Anders als die meisten Regisseure, die Romane fürs Theater adaptieren, hat Anna-Sophie Mahler keinen Reader's-Digest-Version eingerichtet, die im Fast-Forward-Modus durch die Handlung hechelt. Die Entscheidung, Bierbichlers Erfolgsbuch als Erinnerungsspiel auf die Bühne zu bringen, erlaubt der Regisseurin, mit Auslassungen zu arbeiten. Erinnerung ereignet sich ja in der Regel auch nicht als stringente Erzählung. Sie setzt sich eher über Bruchstücke, Gedächtnissplitter zusammen. Genauso verhält es sich mit Mahlers Inszenierung: Schlaglichtartig lässt sie einzelne, prägnante Momente der Familiengeschichte aufscheinen und verzichtet darauf, die rund 400 Romanseiten nach zu buchstabieren und zu bebildern.
So wie Mahlers szenische Fantasie nie rein illustrativ bleibt, ist auch die Musik, die sich durch den Abend zieht, nie nur atmosphärische Untermalung. Das Brahms-Requiem bietet ihr das Gerüst, das die Dramaturgie der szenischen Erinnerungssplitter erst ermöglicht. Mehr noch: Die Musik schreibt die Gedanken und Gefühle fort, die in der Nachkriegswelt des Verdrängens und Verschweigens unausgesprochen bleiben. Gleichzeitig legt sie sich als Klangteppich auch über die Geschichte und verdeckt das, was durch ihren Einsatz nicht mehr ausgesprochen zu werden braucht, aber hätte ausgesprochen werden müssen. Diese Ambivalenz der Musik zwischen fortschreibender und vertuschender Wirkung macht den großen Reiz dieses als "Musiktheater" etikettierten Abends aus.
Als Zuschauer braucht man eine Weile, sich auf den ruhigen Rhythmus und die leise Gangart von Anna-Sophie Mahlers Inszenierung einzustellen, die frei ist von grellen Effekten und vieles in der Andeutung belässt. Wer sich darauf einzulassen vermag, wird eine Aufführung erleben, die – trotz des Verzichts auf Überwältigungsstrategie – mit stiller Eindringlichkeit überwältigt. Zweifelsohne die bisher beste Inszenierung der noch jungen Intendanz von Matthias Lilienthal an den Münchner Kammerspielen.
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