Mit "Statistik Schindluder getrieben"

27.09.2010
Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, hat der Regierung vorgeworfen, bei der Neuberechnung der Hartz-IV-Sätze "getrickst" zu haben. "Wir fühlen uns hier schon übel hinters Licht geführt", sagte Schneider im Deutschlandradio Kultur.
Hanns Ostermann: Jetzt sind es also fünf Euro, die Langzeitarbeitslose künftig mehr bekommen sollen. Statt 359 Euro erhalten sie 364, das hat gestern die Koalitionsrunde im Kanzleramt entschieden. Union und FDP verteidigen natürlich den neuen Regelsatz für Hartz-IV-Empfänger, Arbeitsministerin Ursula von der Leyen gestern Abend in der ARD:

Ursula von der Leyen: 364 Euro, das ist das Existenzminimum, was berechnet worden ist in den letzten sieben Monaten vom Statistischen Bundesamt, so wie es Bundesverfassungsgerichtsurteil uns auferlegt hat, und zwar gemessen daran, was die kleinen Einkommen – der Pförtner, die Verkäuferin, die Friseurin, der Maler – in ihrem Einkommen ausgeben können für Nahrungsmittel, für Kleidungen. Und das ist eben die Wirklichkeit, die es uns ins Stammbuch schreibt, was die, ja die Summe ist, die man für das Existenzminimum braucht.

Ostermann: So die Einschätzung der Bundesarbeitsministerin. Opposition und Wohlfahrtsverbände dagegen toben, von einem sozialpolitischen Skandal spricht der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes Ulrich Schneider. Guten Morgen, Herr Schneider!

Ulrich Schneider: Schönen guten Morgen!

Ostermann: Warum sind die 364 Euro pro Monat für einen Alleinstehenden nicht genug?

Schneider: Man hat getrickst, man hat wirklich getrickst, um auf diese Zahl zu kommen. Es ist nicht genug, weil man schlicht aus dem Alltag heraus weiß, mit 364 ist in der Regel überhaupt kein Über-die-Runden-Kommen. Wir müssen sehen, die Familien, um die es geht, haben häufig noch Ratenzahlungen laufen, Schulden laufen, da werden Dinge in Abzug gebracht. Man kommt nicht hin, und wir haben uns auch sehr gefragt, wie kommt man statistisch überhaupt zu solch einer Zahl? Alle Fachleute schüttelten den Kopf gestern. Und wir haben es auch rausgefunden, als wir tiefer reinschauten: Man hat die Bezugsgröße geändert. Man hat bisher immer an den untersten 20 Einkommensprozent bemessen, was jemand braucht …

Ostermann: … was ist daran falsch?

Schneider: Das war richtig, das war absolut richtig, das Bundesverfassungsgericht hat auch gesagt, das geht so. Jetzt ist man hingegangen, weil die Zahlen zu groß wurden, und hat plötzlich die untersten 15 Prozent genommen, also Menschen, die noch weniger haben und die entsprechend auch noch weniger ausgeben können. Also man könnte auch die untersten zehn Prozent nehmen, dann müsste man den Regelsatz sogar absenken. Man sieht aber, wie hier mit einer angeblich objektiven Statistik Schindluder getrieben wird.

Ostermann: Das heißt, Sie haben sich die Daten bereits jetzt innerhalb der letzten Stunden genauer angeguckt …

Schneider: … heute Nacht, ja …

Ostermann: … und stellen fest, das heißt auch, dass die Bundesarbeitsministerin gestern Abend noch offensichtlich von anderen Voraussetzungen ausgegangen ist. Denn auch sie sprach immer wieder von den unteren 20 Prozent.

Schneider: Ja, die machen das ganz geschickt. Die sagen sich, man muss, um Zirkelschlüsse zu vermeiden, die Leute, die bereits Hartz IV beziehen, rausrechnen. Und wenn man die rausrechnet, dann kommt man ja etwa sozusagen sagen wir auf 15 Prozent. Nein, was hier getan wird, ist in der Tat, hier wird der Öffentlichkeit was vorgeflunkert, was nicht ist. Das wird ganz bewusst getan, die Arbeitsministerin hatte ja vor ein, zwei Wochen noch offiziell dementiert, dass man nur 15 Prozent berechnet, nachdem das in verschiedenen Zeitungen gemeldet worden war. Wir fühlen uns hier schon übel hinters Licht geführt.

Ostermann: Andererseits, Herr Schneider, kommt eine dreiköpfige Familie so auf rund 1000 Euro, und der Staat übernimmt bestimmte Kosten wie das Wohngeld. Warum ist das trotzdem zu wenig, wenn mancher, der arbeitet, kaum mehr hat?

Schneider: Es ist schon eine wichtige Information und gut, dass wir das auch für die Hörerinnen und Hörer klarstellen können: Der Staat übernimmt bei Hartz IV keine zusätzlichen Kosten. Kein Wohngeld, kein Kindergeld, das wird alles in Abzug gebracht. Und das ist auch der Grund, warum in der Regel jemand, der voll erwerbstätig ist, selbst als Pförtner, selbst als Friseur, mehr hat als eine Person, die in Hartz IV ist, weil hier noch Wohngeld oder Kinderzuschläge und Kindergeld obendraufgelegt werden. All das hat ein Hartz-IV-Bezieher nicht.

Ostermann: Sie kündigen für die nächste Zeit eigene Berechnungen an. Warum erst jetzt, obwohl das Karlsruher Urteil aus dem Februar stammt?

Schneider: Weil wir bisher vom Ministerium die Daten nicht bekommen haben. Wir brauchen die vollständigen Datensätze, das Ministerium sitzt drauf, das Statistische Bundesamt darf sie nicht von sich weitergeben. Wir gehen davon aus, dass wir jetzt endlich die Daten bekommen, damit wirkliche Transparenz einzieht, ob man nicht hier mit statistischen Taschenspielerntricks die Zahlen kleinrechnen kann.

Ostermann: Nur 36 Prozent der Deutschen vertreten Ihre Position, was die Anhebung des Regelsatzes betrifft, das hat eine Emnid-Umfrage ergeben. Haben Sie eigentlich eine Erklärung dafür, dass Ihre Argumente bei vielen ganz offensichtlich nicht ankommen?

Schneider: Ja sicherlich habe ich dafür eine Erklärung, und zwar deshalb, weil immer mehr Leute selber in ihren Einkommen ganz hart an Hartz IV vorbeischrammen. Die Zahl derer, die wirklich zum Teil lausiges Geld arbeiten müssen, nimmt zu. Und diese Personen haben – und das kann ich auch gut nachvollziehen – keine Lust, jetzt auch noch Steuern zahlen zu müssen, für diejenigen, die halt keine Arbeit haben. Sie können es auch gar nicht, und wenn man die fragt, sagen die natürlich Nein.

Wir sollten diese Menschen fragen, ob sie was dagegen hätten, dass wir mehr Erbschaftssteuer nehmen, dass wir den Spitzensteuersatz hochsetzen oder Vermögenssteuer einführen, um mehr Hartz IV zu bezahlen. Sie würden sehen, dann bekämen wir ein glattes Ja.

Ostermann: Herr Schneider, das Bundesverfassungsgericht hatte eine transparente, eine nachvollziehbare Berechnung des Regelsatzes gefordert, ganz bewusst keine Summe genannt. Erwägen Sie denn jetzt, nach Karlsruhe wieder zu gehen?

Schneider: Ja wir können gar nicht nach Karlsruhe gehen, es können jetzt eher die Betroffenen entweder nach Karlsruhe gehen …

Ostermann: … oder die Parteien …

Schneider: … oder aber es besteht die Möglichkeit einer, genau, einer Normkontrollklage, dann können die Parteien, die Fraktionen im Bundestag nach Karlsruhe gehen. Wobei man hier sich schon die Frage stellen muss: Wenn dies in Erwägung gezogen würde, dann könnte natürlich auch die SPD das Ganze gleich im Bundesrat verhindern. Es werden so oder so sicherlich jetzt sehr spannende Monate bis Ende Dezember.

Ostermann: Ulrich Schneider, der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes. Herr Schneider, danke Ihnen für das Gespräch heute früh!

Schneider: Nichts zu danken!
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