Mit Mao durch Berlin

Von Elisabeth Nehring · 12.09.2011
Im Rahmen der Asien-Pazifik-Wochen wurden im Berliner Hebbel am Ufer Arbeiten von Künstlern und Kollektiven aus Tokio, Jakarta und Peking gezeigt. Die Inszenierungen sollten für sich sprechen - was nicht immer gelungen ist.
Überall nur lächelnde Gesichter. Natürlich – denn wer würde nicht strahlen, wenn er das Rote Buch, die Mao-Bibel in der Hand hielte? Denn, so erfährt man von den chinesischen Helden und Arbeitern der 60er-Jahre, der Maoismus habe die Tür zur Wahrheit geöffnet und verspreche demjenigen Glück, der sein Leben den Schriften des Großen Vorsitzenden widme. Diese, so sagt ein versonnen in die Ferne schauender Bergarbeiter, seien "wie Berge". Sie müssten "erklommen werden".

Die Produktion "Memory" der Gruppe Living Dance Studio aus Peking vereint in einer beeindruckenden achtstündigen Version verschiedenste Zeugnisse aus der Zeit der chinesischen Kulturrevolution. Alte Propaganda- und Werbefilme des totalitären Personenkults um Mao Tse-tung werden auf ein Gazezelt projiziert, Musikstücke und Zitate öffentlicher Verehrung wechseln sich ab und in langen Interviewpassagen erinnern sich ehemalige Rotgardisten an ihre jugendliche Begeisterung für den Großen Vorsitzenden. In stillen Momenten wandert eine Tänzerin über die Bühne und verteilt Blätter auf dem Boden – Erinnern, das wird ganz deutlich, ist kein gradliniger, wohl geordneter Prozess – und für eine Choreografin wie Wen Hui auch im heutigen China noch immer kein einfacher. Anna Wagner, Kuratorin am Hebbel am Ufer:

"Living Dance Studio sind eine der international bekanntesten Gruppen, unabhängigen Gruppen, das heißt die kriegen keine staatlichen Subventionen und werden geduldet und können so ein Stück wie Memory, das ein Tabuthema wie die Kulturrevolution aufgreift - oder so, wie über die Kulturrevolution gesprochen wird, ist ein Tabubruch - die können das nur in ihrem Studio zeigen, also in einem privaten Rahmen, in einem privat-öffentlichen. Es muss gesagt werden, es wird nur vor Freunden gezeigt – aber wer die Freunde sind, ist eine andere Frage."

Die eindrucksvollsten Momente sind die Erzählungen der ehemals jungen Revolutionäre – die Ankunft am Sehnsuchts-Ort Peking, das aufregende, verwirrende Zusammentreffen mit dem Großen Vorsitzenden, die Überzeugung, das Richtige zu tun, wenn man "revisionistische Elemente" aufspürte. Dabei schwingt einerseits auch heute noch die Identifikation mit dem Handeln und Erleben von damals mit, andererseits mischen sich Selbstzweifel und Rechtfertigungsdruck dazu.

Dass diese subtilen, oft auch unreflektierten Ambivalenzen nicht nur als historische Zeugnisse interessant sind, sondern auch Relevanz für die Gegenwart besitzen, zeigt sich in den Beschreibungen der sozialen Ungerechtigkeiten, die man mit den Mitteln der Umerziehung, Enteignung und harten Bestrafung zu bekämpfen vermeinte: Im Ruf nach sozialer Gerechtigkeit ahnt man das Potenzial für die Gegenwart und erschrickt im selben Moment angesichts der zur Grausamkeit neigenden Selbstgerechtigkeit, die den revolutionären Kampf unterfütterte. Anna Wagner sieht noch eine andere Beziehung zur Gegenwart:

"Wenn ich in meinem eigenen familiären Kontext gucke, bei meinen Eltern, die sind 68er und haben die Mao-Bibel im Regal stehen. Also die Kulturrevolution ist schon was, was in einer gewissen Weise rezipiert worden ist in den 60er-, 70er-Jahren – auch hier. Natürlich nicht kritisch gelesen! Und dann kommt plötzlich so ein großes Stück daher und erzählt ein kollektives Ereignis plötzlich mit vielen individuellen Stimmen und das war spannend, auch die Reaktion von dem Publikum, vor allem auch von den 68ern zu erleben gestern, also dass es ihnen noch mal viel stärker an die Substanz gegangen ist – ihre eigene Vergangenheit, ihre eigenen Erinnerungen."

Auch wenn die chinesische Vergangenheitsbewältigung für diejenigen mit langem Atem sicher den nachdrücklichsten Eindruck hinterließ, wies das HAU-Festival noch andere Wege, die "Komfortzone" zu verlassen – wobei es allerdings keineswegs unbequem zuging.

Der indonesische Choreograf Jecko Siompo, neuer Stern am asiatischen Tanzhimmel und zum zweiten Mal in Deutschland zu Gast, zeigte mit "We came from the East" eine etwas reduziertere Form seines ganz speziellen Tanzstils Animal Pop, in dem er Hip-Hop, klassischen javanesischen Tanz, Modern Dance und Tierbewegungen vereint. Mehr noch als das Stück selbst wirbelt allerdings seine These "Hip-Hop stammt aus Papua!" die Tanzwelt auf. In einer Art postkolonialem, ironischem Umkehrschluss spricht der Papuaner Siompo den Amerikanern damit die Erfindung des Hip-Hop ab.

Überaus selbstbewusst zeigten sich auch die Mitglieder der Gruppe Faifai aus Tokio. In grellbunter Popästhetik versetzen sie in ihrer Show "Shibahama" die alte, in Japan überaus populäre Geschichte um den plötzlich zu Geld kommenden Trinker und Faulpelz Kuma-cha ins Heute und ziehen auf diese Weise Analogien zwischen der jahrhundertealten Theatertradition und dem gegenwärtigen Leben in Japan. Doch trotz des hohen Energieaufwands, den die jungen Performer von Faifai betreiben – Witz und möglicherweise tieferer Sinn blieben dem Europäer, der die japanischen Stand-up-Comedy-Tradition nicht pausenlos auf der Agenda hat, doch überwiegend verborgen.

Und damit ist das ewige Fragezeichen solcher Veranstaltungen wie den Asien-Pazifik-Wochen schon wieder gesetzt – denn im Pendeln zwischen Kontextualisierung, Einordnung und Vermittlungsbemühungen auf der einen Seite und dem Versuch, die Produktionen für sich sprechen zu lassen auf der anderen, ist bislang noch kein Königsweg gefunden worden. Das zeigte sich besonders bei "Matchpoint", den Präsentationen des Choreografenaustauschs mit jungen Künstlern aus Südost-Asien, Neuseeland, Australien und Europa.

Der Versuch, dem Publikum vorher keine Information zu geben, wer wer ist und welches Stück gerade präsentiert wird, will den Fokus auf spielerische Weise weg von bestimmten Erwartungshaltungen und Kategorisierung und hin zu den künstlerischen Arbeiten auf der Bühne selbst lenken. Doch um an die überhaupt ran zu kommen, hätte man, zumindest in einigen Fällen, mehr Information über den Kontext von Künstlern und Thematik gebraucht. Denn letztlich will auch der mit allen postkolonialen Wassern gewaschene, offene und neugierige Zuschauer vor allem eins: Das, was er sieht, verstehen und in Beziehung setzen können.