Mit den Augen eines Fremden

07.02.2008
Die Zwanzigerjahre des vorigen Jahrhunderts waren in Deutschland gezeichnet von den Folgen des Ersten Weltkrieges und von politischen Extremen, die sich bis aufs Blut bekämpften. In dieser Zeit reiste damals der katalanische Korrespondent Eugeni Xammar umher, der das Land mit den Augen eines Fremden wahrnahm. Er schickte eine Vielzahl von Reportagen nach Spanien, die nun in deutscher Übersetzung herausgegeben werden.
Deutschland 1922. Aus Berlin schreibt Eugeni Xammar eine kleine Anekdote.

"Vor nicht allzu langer Zeit schickte die deutsche Postverwaltung eine Postkarte mit folgendem Vermerk an den Absender zurück: ‚Anschrift unvollständig, Empfänger unbekannt.’ Die Postkarte war an den Staatschef adressiert, und die Anschrift beschränkte sich auf die Worte: ‚Reichspräsident Ebert’. Kurz und deutlich, aber unzureichend für die Postverwaltung."

Eine hübsche Anekdote, aber was Xammars Artikel so faszinierend macht, ist seine Geschicklichkeit, mit diesem vermeintlich nebensächlichen Geschehen große Zusammenhänge deutlich zu machen. Die Geschichte hat noch einen zweiten Teil:

"Ebenfalls vor kurzem sandte einer jener unbedarften Bürger, die mit Vorliebe an ihre Herrscher schreiben, aus irgendeinem Dorf in Belgien einen Brief, der an "Monsieur l’Empireur, Allemagne" adressiert war. Der Brief kam in Berlin an, und obwohl die Anschrift unvollständig und auf Französisch war, wurde er nicht zurückgesandt."

Im Gegenteil, die Post ergänzte die Stummeladresse um die Anschrift des Berliner Stadtschlosses, in dem schon lange nicht mehr der Kaiser residierte, sondern ein Biologieinstitut untergebracht war. Was ist schon ein amtierender echter Präsident gegen einen Kaiser, den es nicht mehr gibt, der aber noch in den Köpfen herumspukt?! Die scheinbar nebensächliche Adressengeschichte - aufschlussreich…

"…für alle, die wissen wollen, wie es um die Gemütslage eines Gutteils der deutschen Bürokratie bestellt ist."

Eugeni Xammar wurde 1888 in Barcelona geboren. Er begann seine Karriere als Journalist in seiner Heimatstadt, ging aber früh als Korrespondent nach London und später zur Presseabteilung des Völkerbunds nach Genf. Die Arbeit wurde ihm zu eintönig und normal, er ging nach Deutschland, wo es drunter und drüber ging. 9. November 1923.

"Es gibt wenig Eindrucksvolleres als einen gut organisierten und inszenierten Putsch, wie den, den mitzuerleben ich das Glück und das Vergnügen hatte, kaum, dass ich 24 Stunden in München war..."

"Der Münchner Putsch war großartig und jeder sollte in seinem Leben wenigstens einen Putsch miterlebt haben. Sollte also einer meiner geschätzten Leser eines Tags nach München reisen und an einem Bierkeller vorbeikommen, in dem gerade ein Putsch stattfindet, so rate ich ihm hineinzugehen. Ich bin sicher, er wird es nicht bereuen."

Seit einem Jahr war Xammar Berlin-Korrespondent für eine katalanische Zeitung, als er in München Hitlers Putsch von 1923 miterlebte. Deutschland litt unter der Niederlage von 1918 und unter der Abwesenheit des Kaisers. Xammar beobachtete, dass im November eines jeden Jahres gerade in Bayern die vaterländischen Vereine in Bierkellern zusammenströmten - mit "trauernder Seele", wie er schreibt. Dann trat der komische Held des Putsches auf. Adolf Hitler betrat mit 30 Bewaffneten den Saal.

"Er hielt den Revolver in der rechten Hand und schrie aus voller Kehle: ‚Es lebe Deutschland! Nieder mit der Regierung der Juden!’ … Hitler wollte etwas sagen, aber die Hochrufe auf von Kahr und König Rupprecht übertönten ihn. Da reckte Hitler mit einer Geste, die eines nordamerikanischen Films würdig gewesen wäre, die Hand in die Luft und schoss zweimal in die Decke."

Xammar betrachtet die Geschehnisse in Deutschland, das er ausgiebig bereiste, wie ein Theaterzuschauer ein Drama oder ein Kinogänger einen Film. Hitler als Cowboy-Darsteller. Die Reportage dieses Putsches im Bier- und Tabaksdunst des Bürgerbräukellers ist eine hinreißend komische Schilderung einer makabren Posse. Xammar wusste, mit wem er es zu tun hatte, er hatte Hitler kurz zuvor interviewt.

"Ein Dummkopf voller Tatendrang, Vitalität und Energie, ein maßloser, nicht zu bremsender Dummkopf."

Das war Xammars Eindruck von Hitler, der ihm sagte:

"Die Judenfrage ist ein Krebsgeschwür, das unseren deutschen nationalen Organismus zerfrisst. Wenn wir wollen, dass Deutschland lebt, müssen wir die Juden vernichten..."

Das Zitat konnte man 1923 in der Zeitung lesen, für die Xammar schrieb. Den katalanischen Auslandskorrespondenten Xammar kennt in Deutschland heute kaum jemand. Aber seine Reportagen aus dem aufgewühlten Deutschland der frühen 20er Jahre sind so aufschlussreich, seine Beobachtungen so scharfsinnig, sein ironischer Stil so unterhaltsam, dass nun, nach über 80 Jahren, eine Auswahl auf Deutsch erschienen ist. 1922-1924: Das waren die Jahre der Hyperinflation. Wie geht ein Durchschnittsmensch damit um, dass er plötzlich mit Millionen, Milliarden und Billionen Mark zu tun hat?

"Nachdem er hundert Mark für die Straßenbahn, fünfhundert Mark für einen Kaffee, achttausend Mark für ein Mittagessen, zwölftausend für einen Platz im Theater, dreißigtausend für ein Hemd und eine halbe Million für eine Woche Winterurlaub in Bayern ausgegeben hat, ist der Deutsche empört und stolz zugleich. In seiner gestrigen Rede ließ der Finanzminister Dr. Hermes sich gar nicht erst herab, den Mund aufzutun, um von weniger als fünfzig Milliarden zu sprechen."

Xammar sieht Deutschland zerrissen, nahezu jedes Land mache, was es wolle, die Zentralgewalt in Berlin könne sich nicht durchsetzen. Im Anhang sind die Personen erläutert, deren Namen uns heute oft nicht mehr viel sagen – aber man schaudert, wenn man liest, wie viele von ihnen ermordet wurden.

Es schadet nicht, im Geschichtslexikon oder im Internet noch mal die großen Linien der Epoche nachzulesen, die Xammar in den Details beschreibt. Er ist ein scharfer Beobachter, er hat mit vielen Leuten gesprochen, den großen, aber auch den kleinen, und er hat seine Zeit verstanden. Er erzählt witzig, bildstark und erklärt anekdotenreich das Land, die Politik und die Mentalität der Deutschen. Es macht Vergnügen ihn zu lesen und mit ihm - aus gebührendem Abstand - zu sehen, was für eine traurige Posse dieses Deutschland in den Zwanzigern ist, die immer als die Goldenen Zwanziger Jahre beschrieben werden.

Xammar blieb in Deutschland bis 1937, bis die Nazis ihn auswiesen. Der Verlag hat eine geschichtliche Fundgrube geöffnet. Man kann noch auf weitere Übersetzungen seiner Reportagen hoffen.

Rezensiert von Paul Stänner

Eugeni Xammar: Das Schlangenei
Berichte aus dem Deutschland der Inflationsjahre 1922 – 1924

Aus dem Katalanischen von Kirsten Brandt
Berenberg Verlag, 179 Seiten, 21,50 Euro