Mit dem kritischen Blick eines Unzugehörigen

Von Anette Weingärtner · 08.11.2006
Mitte der 60er Jahre wurde der Schriftsteller Peter Weiss durch zwei Stücke bekannt: "Marat/Sade" und vor allem durch sein Dokumentarstück "Die Ermittlung", das auf den Prozessakten des Auschwitz-Prozesses beruhte. Weiss, selber Exilant, setzte sich in zahlreichen Büchern mit dem Nationalsozialismus auseinander. Heuter wäre er 90 Jahre alt geworden.
Ausschnitt aus Peter Weiss’ "Marat/Sade”:
"Einen werden sie finden, auf dem sie alles abladen und sie werden ihn ernennen zu einem blutgierigen Ungeheuer, das in die Geschichte eingehen wird unter dem Namen Marat.”

Das Stück ”Marat/Sade” erregte 1964 in Deutschland allgemeines Aufsehen. In dem Drama wurden zwei Figuren zusammengebracht, wie sie gegensätzlicher nicht sein konnten: Der Sozialrevolutionär Jean Paul Marat und der Revolutionär des bürgerlichen Wertesystems, Marquis de Sade. Das Stück kombiniert Brechtsche Formen mit erlebbarer Körperlichkeit. Hier wurde politisches Theater zum Augenschmaus.

Mit dem ”Marat/Sade” wurde der damals bereits 47-jährige Autor Peter Weiss auf einen Schlag in der Öffentlichkeit in Ost- und Westdeutschland berühmt Ein Jahr später, 1965, bekannte sich der vor der Arbeit am ”Marat/Sade” eher unpolitische Schriftsteller Weiss in seinen ”10 Arbeitspunkten eines Autors in der geteilten Welt” zum Sozialismus:

"Die Richtlinien des Sozialismus enthalten die für mich gültige Wahrheit. Zwischen den beiden Wahlmöglichkeiten, die mir bleiben, sehe ich nur in der sozialistischen Gesellschaftsordnung die Möglichkeit zur Beseitigung der bestehenden Missverhältnisse in der Welt."

Von diesem Zeitpunkt an intensivierte Weiss seine schriftstellerische Auseinandersetzung mit der politisch/gesellschaftlichen Wirklichkeit. Die Existenz einer zum damaligen Zeitpunkt in ein sozialistisches und ein kapitalistisches Lager aufgeteilten Welt blieb für ihn bestimmend.

Ende der 60er Jahre reagierte er mit dem ”Viet Nam-Diskurs” und dem ”Gesang vom Lusitanischen Popanz” auf den Vietnam-Krieg und die Dritte-Welt-Problematik. Doch zuvor entstand das Dokumentarstück ”Die Ermittlung”, in dem Weiss sich mit der nationalsozialistischen Vergangenheit auseinandersetzt. Die Lagerwirklichkeit von Auschwitz wird in dem Stück in Form eines Prozesses dargestellt. Weiss bezieht sich auf die Frankfurter Auschwitz-Prozesse, an denen er teilgenommen hatte.

Für den hannoverschen Literaturwissenschaftler und Peter Weiss-Forscher Martin Rector liegt das besondere der Weissschen Auseinandersetzung mit der Auschwitzthematik gerade in dieser Mittelbarkeit.

"Dieser Modus des Indirekten ist es, der nur durch die Zeugenaussage und in der Engführung der Zeugen gegeneinander die Lagerwirklichkeit deutlich macht. Da reflektiert das Stück früh in die Richtung: Das Undarstellbare lässt sich nicht einfach darstellen. Das Stück scheut sich vor einer unmittelbaren Abbildung."

Peter Weiss’ lebenslange Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit und seine Politisierung in den 60er Jahren liegen auch in seiner Biographie begründet. Die Problematik seiner jüdischen Identität und seine Exilsituation spielen eine wichtige Rolle.

1916 wurde Peter Weiss in Nowawes bei Berlin, dem heutigen Babelsberg, geboren. Seine Kindheit und Jugend verbrachte er in Bremen und Berlin. 1934 emigrierte Weiss zusammen mit seinen Eltern nach England. Von 1936 bis 1939 lebte er in Warnsdorf in der Tschechoslowakei. Dann erfolgte die Emigration nach Schweden. Seit 1946 war Weiss schwedischer Staatsbürger. Er lebte bis zu seinem Tod im Mai 1982 in Stockholm.

Vom Beginn der 30er Jahre bis in die 50er Jahre hat Peter Weiss als Maler gearbeitet. Die Erfahrung der Emigration und des Exils konnte er zu diesem Zeitpunkt besser mit den Mitteln der Malerei als mit denen der Sprache verarbeiten. Weiss greift in seinen Bildern vielfach auf die magisch-realistische Malweise von Bosch und Breughel zurück. Später spielte der Einfluss des Surrealismus eine Rolle.

Surrealistisch beeinflusst sind teilweise auch die 14 Experimental- und Dokumentarfilme, die zwischen 1952 und 1960 entstanden. Außerdem verfasste Weiss jedoch auch wichtige Prosatexte in dieser Zeit: Die beiden autobiographischen Romane ”Abschied von den Eltern” und ”Fluchtpunkt” und den experimentellen Mikroroman ”Der Schatten des Körpers des Kutschers”.

Martin Rector bewertet die Exilsituation von Weiss als entscheidende Grundlage seiner künstlerischen Tätigkeit.

"Punkt des von außen Blickens auf und Vorzug des nicht allzu sehr Involviertseins, aber auch Ausgegrenztseins. und diese Ambivalenz, diese Ausgegrenztheit zu erdulden, erfahren, erlitten zu haben, sie aber andererseits als Stigma anzunehmen und sie als künstlerische Chance zu wenden, ist bezeichnend für ihn. Sie hat ihm diese Art des Schreibens und diese Art der Beschäftigung mit dieser in zwei Lager geteilten Welt erst ermöglicht."

Kurze schwarze Haare, prägnante Gesichtszüge, eine Brille, die den kritisch wirkenden Blick unterstreicht und eine Engagiertheit und dennoch Sachlichkeit in der Stimme – das sind Charakteristika des politischen Schriftstellers Peter Weiss. Freunde sahen ihn so:

Peter Spielmann: "Er war ein Mensch mit einer sehr tiefen Emotionalität. aber einer Emotionalität, die sehr würdig war, die sehr männlich war. Fast wie so ein Adler, aber im guten Sinn. Wie ein Adler der Anständigkeit, der Moral. Er konnte auch sehr spielerisch sein. Er konnte auch lustig sein. Er konnte auch lachen. Aber in dem Lachen gab es immer so ein bisschen eine traurige Ecke."

Christa Wolf: "Als Mensch habe ich ihn erlebt als einen sehr ernsten, grüblerischen, manchmal von Konflikten beinahe zerrissenen Mann, der natürlich diese Befindlichkeit nicht immer nach außen zeigte."

In seinem Hauptwerk, dem antifaschistischen Roman ”Die Ästhetik des Widerstands”, der zwischen 1975 und 1981 in Westdeutschland, 1983 in der DDR erschienen ist, kulminieren sowohl die politischen als auch die multimedialen künstlerischen Tendenzen von Peter Weiss. Das mehr als tausend Seiten umfassende Werk kann sowohl als eine Geschichte der Arbeiterbewegung als auch als ein kunsthistorischer Diskurs gelesen werden. Formal sind für den Roman der Wechsel zwischen einer bildlichen und einer diskursiven Sprache prägend.

Für Martin Rector ist es gerade dieses Zusammenspiel von Text und Bild, die Intermedialität also, die die heutige Aktualität von Peter Weiss ausmacht:

"Die Intermedialität von Peter Weiss ist vielleicht heute im Zeitalter der stärkeren Verknüpfung der Medien untereinander etwas, was heute Aktualisierungen von Weiss ermöglicht."