Misslungene Ehrenrettung

Rezensiert von Alexander Gauland · 02.11.2008
Lange Zeit wurde Kaiser Wilhelm II. als Sündenbock der deutschen Geschichte dargestellt, seine Herrschaft als Vorgeschichte für 1933 gedeutet. Eberhard Straub unternimmt in "Kaiser Wilhelm II. in der Politik seiner Zeit" zwar den Versuch einer Ehrenrettung, lastet die politischen Fehler des letzten deutschen Monarchen jedoch nur anderen an.
Es hätte eine verdienstvolle Sache werden können, dem ewigen Sündenbock Wilhelm II. Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Seit deutsche Geschichte fast ausschließlich als Vorgeschichte von Auschwitz behandelt wird und noch immer die Ahnenreihe Luther, Friedrich, Bismarck und Wilhelm II. durch die Ursachenforschung für den 30. Januar 1933 geistert, wäre ein Zurechtrücken dieses unglücklichen Monarchen angebracht.

Doch auf solchen Versuchen lastet überschwer die stupende Gelehrsamkeit der Erich Eyck und John Röhl, die den Kaiser als Mensch wie als Politiker historisch vernichtet haben. Dagegen anzuschreiben hat zuletzt der jüngst verstorbene Nicolaus Sombart mit einer schmalen Biografie versucht und Wilhelm zulasten seiner Zeit wie seines Volkes und deren Eliten entlastet. Wilhelm, so lautet Sombarts Urteil, war keine Fehlbesetzung, sondern im Gegenteil der ideale Repräsentant jenes von Bismarck geschaffenen Reiches, ein "Herr der Mitte", den nach dem Scheitern dieses Reiches seine Landsleute zum Sündenbock gemacht haben.

Und auch Eberhard Straub beginnt seine Ehrenrettung des letzten deutschen Kaisers mit einer programmatischen Anleihe bei Goethe:

"Wer sich von den Irrtümern seiner Zeit nicht verführen lasse, gab dieser zu bedenken, vereinsame; lasse man sich aber von ihnen einfangen, so habe man auch weder Ehre noch Freude davon. Meist wären es die Schwachheiten seiner Epoche, über die der so vielfach bedrängte Mensch mit seinem Jahrhundert zusammenhänge. Missmutig beobachtete der große Historiker, der Goethe auch war, die Versuche Nachgeborener, sich eine Welt von gestern im Hinblick auf ihre ganz anders geartete Gegenwart verständlich zu machen, statt historische Gestalten in der Beziehung zu ihren Zeitgenossen und deren Ideen zu verstehen."

Doch um damit zu reüssieren, hätte der Autor ein anderes Buch schreiben müssen. Das beginnt schon mit dem viel zu langen Vernichtungsfeldzug gegen die unglücklichen Eltern. Dass Fritz und Vicky, Kaiser Friedrich und Victoria von Preußen, höchst problematische Figuren waren, der eine zu schwach, die andere zu stark und noch dazu von der fixen Idee besessen, alle Welt nach dem Vorbild von Albert, ihrem Vater und Prinzgemahl von Königin Victoria, zu formen, wissen wir. Zu Wilhelms Erklärung trägt der angestaubte Whig-Liberalismus seiner Eltern aber nur wenig bei. Straub versucht immer wieder, Wilhelms Tugenden zu vergrößern und seine Untugenden anderen in die Schuhe zu schieben oder ganz auszublenden. Eine Ehrenrettung des Kaisers, die weder seine unglückliche Rede vor preußischen Rekruten mit der Aufforderung auf die eigenen Eltern zu schießen, wenn es Not tut aus dem Jahre 1891, noch die "Hunnen-Rede" von 1900 oder gar die Eulenburg- und die damit verbundene Daily-Telegraph-Affäre erwähnt, die zusammen fast eine Staatskrise und die Abdankung Wilhelms auslösten, wird kaum jemanden überzeugen, vor allem nicht die Kritiker des Kaisers. Und wenn der Kaiser Fehler macht, sind es die anderen, wie zum Beispiel bei der Aufkündigung des Rückversicherungsvertrages mit Russland, die Straub ausgerechnet den Bismarcks in die Schuhe schieben möchte.

"Der Kaiser wollte unbedingt an Herbert von Bismarck als Staatssekretär festhalten. Sein Name versprach Kontinuität in der Außenpolitik, nicht allein im Verhältnis zu Russland. Herbert von Bismarck hielt allerdings die Loyalität zu seinem Vater für wichtiger als die zu seinem Kaiser, sollte seine Haltung auch den Interessen des Reiches schaden. Er leitete keine Verhandlungen mit Schuwalow ein und unterließ es, gleich seinem Vater, Leo von Caprivi die Bedeutung des Rückversicherungsvertrages zu erklären und ihn davon zu überzeugen, wie notwendig es war, an ihm festzuhalten."

Man kann in der Tat über den Rückversicherungsvertrag unterschiedlicher Meinung sein und weder Bismarcks Nachfolger Caprivi, noch das Auswärtige Amt in der Wilhelmstraße wollten oder konnten länger die fünf Bälle Bismarcks in der Luft halten und votierten für Auslaufen lassen. Dass aber Kaiser und Reichskanzler die Sache nicht ausreichend erklärt bekamen, ist schon komisch. Hier stellen dem Autor seine Wünsche ein Bein. Denn Straub ist Bismarckianer und Anhänger eines konservativen europäischen Blocks zwischen Russland, Deutschland und Österreich. Doch da er diese Politik und zugleich seinen Helden retten möchte, kann das Ganze nur ein Unfall, verursacht durch mangelnde Aufklärung und fehlende Loyalität sein, ein vernichtendes Urteil über die Intelligenz von Kaiser und Reichskanzler.

Überhaupt die Außenpolitik: Wilhelms persönlicher Anteil an der Verschlechterung des Verhältnisses zu England durch seine Flottenvermehrungspolitik fehlen ebenso wie sein Zickzackkurs vor Ausbruch des Krieges, mal Antreiber, mal Bremser, mal sollen die Österreicher losschlagen und dann wieder mit der serbischen Antwort auf ihr Ultimatum zufrieden sein. Auch dass die graue Eminenz des Auswärtigen Amtes, der Legationsrat Holstein, auf ein englisches Bündnis "fixiert" war, ist eine Mär. Er fürchtete außereuropäische Verwicklungen, glaubte, es nicht nötig und viel Zeit zu haben, da sich Bär und Walfisch, also Russland und England, niemals verbünden könnten. Straub:

"Es war vernünftig, dass Deutschland eine europäische Macht, ein Bündnis vermied, das ihm in Europa nichts nutzte. Es war völlig unüberlegt, nie ernsthaft mit Russland zu verhandeln, um zu sondieren, ob sich über St. Petersburg eine Verbindung nach Paris herstellen ließe."

Wie denn, solange Elsass-Lothringen auf diesem Wege lag?
Dass Wilhelm der technischen, wirtschaftlichen und industriellen Moderne aufgeschlossen gegenüberstand, ist nichts Neues, dass er von Straub ausdrücklich dafür gelobt wird, dass er Hans Thoma, Max Klinger, Lovis Corinth, Max Slevogt, Edvard Munch und Richard Strauss – man könnte noch Max Liebermann und Gerhart Hauptmann hinzufügen – gewähren ließ, ist allerdings ein vergiftetes Kompliment für einen modernen Monarchen.
Am Ende liest man nur noch mit Kopfschütteln über Wilhelms Erben:

"Sie besaßen keinerlei Einbildungskraft, wie russische und deutsche revolutionäre Energien gebündelt dies Europa verwandeln könnten, und wie die beiden Verlierer des Krieges als Wandler der Welt die Hoffnungen der erschöpften Europäer auf sich vereinigen könnten ... Die versäumte oder von Ebert und Hindenburg erstickte Revolution von 1918 war für den 30. Januar 1933 die Voraussetzung. Es führt kein Weg von Wilhelm II. zu Hitler. Der Untergang der Weimarer Republik war schon im Sommer 1917 mit dem Sturz des Kanzlers und des monarchischen Konstitutionalismus vorweg genommen."

Eine andere Ahnenreihe, diesmal unter Einschluss Hindenburgs und der SPD - doch um nichts wirklicher als die alte.

Eberhard Straub: Kaiser Wilhelm II. in der Politik seiner Zeit
Die Erfindung des Reiches aus dem Geist der Moderne
Landtverlag, Berlin 2008
Eberhard Straub: Kaiser Wilhelm II. in der Politik seiner Zeit
Eberhard Straub: Kaiser Wilhelm II. in der Politik seiner Zeit© Landtverlag