Míraz Bézar: Ein absolutes Muss

Míraz Bézar im Gespräch mit Britta Bürger · 18.04.2010
Regisseur Míraz Bézar hat in Berlin studiert und kurdische Wurzeln. Sein Debüt "Min Dit - die Kinder von Diyarbakir" auf Kurdisch würde auf Festivals in der Türkei teilweise als Provokation empfunden, so Bézar. Er erzählt vom Schicksal eines kurdischen Mädchens.
Britta Bürger: "Min Dit - die Kinder von Diyarbakir" am Donnerstag kommt der Film von Míraz Bézar in unsere Kinos. Der in Berlin lebende kurdische Filmemacher hat an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Regie studiert, nach einer Reihe von Kurzfilmen aber in Deutschland keine Produktionsmöglichkeiten für einen großen Film gefunden. 2005 ist er deshalb nach Diyarbakir in den kurdischen Osten der Türkei gezogen, um dort zu recherchieren. "Min Dit" ist jetzt das Resultat dieser Recherchen, der erste kurdischsprachige Film überhaupt. Gerade lief er auf dem Internationalen Filmfestival in Istanbul. Und dort haben wir Míraz Bézar auch am Telefon erwischt. Was für eine Situation haben Sie damals in Diyarbakir vorgefunden?

Míraz Bézar: Diyarbakir kannte ich ja vorher nur so von kurzen Besuchen und von dem, was ich gelesen hatte. Und das, was ich vorgefunden habe, war eher eine Stadt, die mit all den Wunden und all den Verletzungen, ich sag mal bildlich gesprochen, weiterleben musste und –gelebt hat. Sprich all das, was man gelesen hat über die Morde und über den Krieg, ist quasi verschlossen hinter Türen geblieben. Und es brauchte einfach eine Zeit, bis ich halt die Leute zum Sprechen gebracht habe. Aber wenn man dann mit den Leuten spricht und zwar wirklich mit fast jedem, mit dem man spricht, kommt halt eine Geschichte raus, die sehr, sehr brutal und sehr, zum Teil sehr herzergreifend ist.

Bürger: Warum haben Sie sich entschlossen, das Thema aus der Perspektive von Kindern zu erzählen?

Bézar: Mein Wunsch war es schon, eine Geschichte zu finden, die repräsentativ für alle anderen stehen könnte. Und irgendwann bin ich halt einer Frau begegnet mit anderen Jugendlichen zusammen und habe ein Gespräch gehabt, ganz völlig nebensächliche Sachen über das Leben besprochen und habe sie dann zwei Tage später noch mal getroffen und zwar in einer anderen Situation: Weil wir waren im Menschenrechtsverein und haben halt eben nach Geschichten gesucht und dann hat man mir gesagt, ja da gibt es eine Person, deren Geschichte könnte interessant sein. Und diese junge Frau hat mir halt ihre Geschichte erzählt und was sie erlebt hat, als sie zehn, elf, zwölf Jahre alt war. Und das wurde dann für mich zu der Begegnung, die halt unsere Geschichte zu ihrer Geschichte hat werden lassen.

Bürger: Wie haben Sie es geschafft, diesen Film aus eigener Kraft zu finanzieren?

Bézar: Ich sag mal mit sehr, sehr viel Energie, also ich sag mal Glauben an das, was ich schaffen könnte. Und ich hatte Vorbilder, also ich wusste ungefähr, dass im Iran Filme gemacht werden, die low budget finanziert werden, also ungefähr 50, 60.000 Dollar, hat man mir immer gesagt. Das habe ich halt versucht, innerhalb meiner Familie zusammenzukriegen, und natürlich habe ich mich nicht selber bezahlt und viele Schauspieler haben kein Geld bekommen bis heute. Und so ging es halt und ...

Bürger: Aber angeblich hat Ihre Mutter dafür ein Haus verkauft. Ist das eine Legende oder stimmt das?

Bézar: Das ist keine Legende. Es ist halt so, dass eben ich diese, ich hatte 70.000 Dollar am Anfang, und das hat einfach nicht ausgereicht, nach drei Wochen ist halt das Geld ausgegangen und das Team aus Istanbul wollte auch gleich wieder weg. Und in der Phase ist halt meine Mutter dazwischengesprungen und hat die Kameramiete gezahlt, hat also ihr Haus verkauft und damit die Kamera bezahlt. Dann ist mein Onkel dazugekommen, hat das Team ausbezahlt und die Hotelkosten bezahlt und, und, und ...

Bürger: Und schlussendlich konnten Sie Fatih Akin als Koproduzenten gewinnen.

Bézar: Ja, also ich kenne Fatih schon seit meiner Kurzfilmzeit und damals hat er auch noch Kurzfilme gedreht und als ich dann diesen Film hatte, habe ich ihm einfach eine Mail geschickt und gesagt, hey, jetzt hast du die Gelegenheit, guck dir meinen Film mal an! Und dann ist er nach Berlin zu mir gekommen und hat sich das angeguckt und mochte den Film und hat sich dann einfach daran beteiligt.

Bürger: Sie haben das Drehbuch zuerst auf Türkisch geschrieben, dann aber zweisprachig gedreht, auf Türkisch und Kurdisch. Das ist ja etwas, was wir deutschen Zuschauer durch deutsche Synchronisation oder Untertitel gar nicht mitbekommen. War das von Anfang an Ihr Konzept, auch auf Kurdisch zu drehen, oder haben die Kinder das auch verlangt?

Bézar: Nein, das ist absolutes Muss für mich gewesen, dass ich diesen Film auf Kurdisch drehe, weil die Türkei ist vor Kurzem noch ein Land gewesen, wo es offiziell keine Kurden gab, und deren Sprache gab es ja sowieso nicht. Und wenn in der Region irgendwas gedreht worden ist, dann hat man den Menschen dort halt ein gebrochenes Türkisch in den Mund gelegt, was wirklich ekelhaft und widerlich war. Also wenn ich einen Film mache in Diyarbakir, dann halt nur unter der Prämisse, den auch auf Kurdisch zu drehen. Natürlich kommt in dem Film auch Türkisch vor, weil einfach auch türkische Charaktere darin vorkommen und man halt auch gemischt spricht.

Bürger: "Min Dit - Die Kinder von Diyarbakir", wir sind hier im Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit dem Regisseur Míraz Bézar. Nach Antalya zeigt er seinen Film derzeit beim Internationalen Filmfestival in Istanbul. Wie haben Sie die Vorführung des Films in der Türkei erlebt? Wird er vor allem als Provokation aufgefasst oder gibt er auch den Anstoß tatsächlich zu Diskussionen, die an einer gesellschaftlichen Aufarbeitung dieses tabuisierten Aspekts der Geschichte interessiert sind?

Bézar: Beides. Also erst einmal gab es in Antalya ein Novum. Antalya ist national gesehen das wichtigste Filmfestival in der Türkei und dort lief jetzt plötzlich ein Film in kurdischer Sprache mit türkischen Untertiteln. Das ist unfassbar eigentlich gewesen, also undenkbar noch vor wenigen Jahren. Und das war erst einmal für uns eine Genugtuung, weil wir einen Schritt dessen gemacht haben, den wir sowieso die ganze Zeit machen wollten, also eine Veränderung im Land. Wir wollten, dass ein kurdischsprachiger Film wie jeder andere Film aus dem Ausland in den türkischen Kinos gezeigt wird. Und dann gab es halt eine Pressekonferenz und dort waren einfach ziemlich viele erboste Zuschauer, die auf der Pressekonferenz auch zu Wort kamen und die meinten, wir würden hier Propaganda machen, also zum Teil PKK-Propaganda. Und das wär alles nicht wahr. Und das Interessante damals im Oktober in Antalya war, es gab einfach viele Menschen in Antalya, die sich zu Wort gemeldet haben und, statt uns sprechen zu lassen, selber gesagt haben, ich vermisse selber aus meiner Familie meinen Bruder, meinen Vater und, und, und, und das war insofern eine interessante Begegnung. Also es gibt einfach sehr, sehr viele Menschen in der Türkei, die nicht wahrhaben wollen, dass mit ihrem Geld das Militär Menschen hat umbringen lassen oder Tausende von Dörfern hat verbrennen lassen und Menschen vertrieben hat.

Bürger: Sie nennen ja im Film konkret den Namen der Geheimdienstorganisation JITEM. Welche Rolle hat sie gespielt und gibt es diese Organisation noch immer?

Bézar: Sehr interessant ist gerade, dass das Militär noch immer sich weigert zuzugeben, dass es diese Einheit gibt. Aber gleichzeitig gibt es mittlerweile Belege, auch in Zeitungen in der Türkei veröffentlicht, die nachweisen, dass deren Mitglieder ganz normal wie jeder andere Bürokrat seinen Lohn bekommen hat. Also es gibt Lohnnachweise von den Leuten, die dort tätig sind. Und noch immer gibt es große Versuche, das zu kaschieren, was passiert ist und dass es diese Einheit gibt. Also das Militär sagt offiziell, nein, das gibt es nicht.

Bürger: Es gibt ja diese Schlüsselszene in dem Film, in der das Mädchen Gülestan durch einen Zufall den Mörder ihrer Eltern sieht. Hinter seinem Rücken richtet sie eine Pistole auf ihn und ich hatte das Gefühl, diese Szene, die dauert wirklich ewig. Man fragt sich, ob sie schießen wird oder nicht – sie tut es nicht, so viel sei verraten. Steckt in dieser Szene mehr Hoffnung als Realität? Denn in vielen Fällen setzt sich die erlebte Gewalt ja durchaus fort, manchmal über Generationen hinweg.

Bézar: Genau das ist halt das Thema dieses Filmes: Gewalt, die über Generationen hinweg vererbt wird. Ich selber bin ja als Filmemacher ja auch wie jeder andere zum Teil einfach ratlos und verzweifelt, als Kurde sowieso verzweifelt: Wie komme ich aus dieser Situation raus, erst einmal wirklich ganz banal als unterdrücktes Volk mich zur Wehr zu setzen, aber nicht gleich als erste Reaktion auf Gewalt mit Gewalt zu reagieren. Und aber ich selber als Filmemacher muss eine Utopie entwickeln und sagen, es muss doch noch andere Möglichkeiten geben, wie wir als, in Anführungsstrichen, "Opfer" uns zur Wehr setzen können. Das ist eine Utopie, die der Film versucht, dort zu zeichnen, aber eine mögliche Utopie. Weil es kann einfach nicht sein, dass wir selber auch zu Tätern werden.

Bürger: Haben die wichtigen Zeitungen in der Türkei über den Film geschrieben oder haben Sie auch Reaktionen vermisst?

Bézar: Nein, alle haben darüber geschrieben. Also erst einmal: Seit Antalya ist der Film sehr, sehr aktuell, wird besprochen. Jetzt in Istanbul wird er auch besprochen und die Thematik ist brisant. Und eben weil es eine Verweigerungshaltung seitens der türkischen Gesellschaft gibt, ist eine immense Diskussion da. Und ich selber tu halt meines dazu, weil ich einfach sehr, sehr offen darüber spreche in den Medien. Und ich, ein anderes Novum, was der Film halt auch macht, ist, den Namen Kurdistan zu benutzen, was in der Türkei jedem nationalistisch Gesinnten halt die Haare zu Berge stehen lässt, wenn jemand Kurdistan sagt. Aber es braucht einfach Leute, die die Tabus brechen, die sagen, es braucht einfach eine Normalität, dass eben diese Filme gezeigt werden, diese Thematik angesprochen wird und, und, und.

Bürger: Wir haben jetzt viel über den politischen Background des Films gesprochen, aber dieser Film hat ja auch märchenhafte Elemente. Sie orientieren sich weniger am dokumentarischen Kino als vielmehr an einer, ja poetischen Bildsprache, wie wir sie zum Beispiel auch von iranischen Filmemachern kennen. Welche Kraft steckt in der Poesie, wenn man sie einsetzt, um so einen hoch politischen Gegenstand zu fassen?

Bézar: Das ist eigentlich die einzige Kraft, weil man sonst die Leute, glaube ich, nicht erreicht. Und ich selber bin ja auch immer am meisten berührt, wenn ich im Kino aus einem sehr persönlichen Blickfeld etwa eine kleine Geschichte erzählt bekomme, die dann etwas sehr Universelles bekommt. Und das schafft man meistens halt nur über einen poetischen Ansatz und für mich war ein Schlüsselmoment während der Schreibphase, als ich und Evrim Alatas, die Koautorin, saßen und ich sagte, aber es gab mal diese Aktion in Argentinien von Aktivisten, die Putschisten und Folterer dechiffriert haben. Und darauf hin hat sie gesagt, ja es gab mal so ein Märchen, was auf symbolische Art und Weise das gleiche geschildert hat.

Bürger: Sie haben Ihre Koautorin Evrim Alatas erwähnt. Die Journalistin ist vor wenigen Tagen mit nur 34 Jahren an Krebs gestorben. Ist das jetzt so etwas wie ihr Vermächtnis?

Bézar: Ja, zum Teil, sie hat auch einen Roman kurz vor ihrem Tod veröffentlicht und ist sehr, sehr bekannt in der Türkei gewesen für sehr kritische Texte als Kolumnistin in verschiedenen Zeitungen und war sehr, sehr beliebt. Und ich bin einerseits sehr traurig, dass gerade jetzt, wo der Film auch in der Türkei in den Kinos läuft, dass sie jetzt all das nicht so hat erleben können. Aber auf der anderen Seite ist allen sehr, sehr bewusst, wie viel in diesem Film auch von ihr drinnensteckt. Und wenn es so etwas gibt wie ein Weiterleben – Evrim Alatas wird mit diesem Film halt auch weiterleben, klar.

Bürger: "Min Dit - Die Kinder von Diyarbakir", am Donnerstag kommt der Film von Míraz Bézar in die deutschen Kinos und wir haben den Regisseur am Rande des Istanbuler Filmfestivals ans Telefon bekommen. Danke Ihnen, Herr Bézar, für das Gespräch!

Bézar: Ich danke Ihnen!
Mehr zum Thema