Mindesthaltbarkeitsdatum auf der Kippe

Von Udo Pollmer · 30.10.2011
Durch einen neuen Namen für das Mindesthaltbarkeitsdatum soll der Verschwendung von Lebensmitteln entgegengewirkt werden. Sinnvoll wäre jedoch eine völlig neue Deklaration, die sich am Verpackdatum orientiert, kommentiert Udo Pollmer.
Die besten Satiren schreibt das Leben, heißt es, aber diesmal gebührt die Ehre der Zeitung mit den ganz großen Lettern. Akribisch listete sie auf, welche Lebensmittel bei wie viel Grad wo genau im Kühlschrank zu lagern seien - um dem vorzeitigen Verderb Einhalt zu gebieten. Angebrochener Ketchup beispielsweise gehöre in das Fach mit sieben Grad, ebenso Wurst-Aufschnitt, während Fleisch angeblich kühler bei fünf Grad gelagert werden müsse. Bei Kohl und Kirschen reichten zehn Grad, bei Kartoffeln und Äpfeln sind hingegen fünf Grad angesagt. Bei so vielen Details verlass ich mich dann doch lieber aufs MHD, da sind Temperaturschwankungen gleich mit einkalkuliert.

Liebe Kolleginnen und Kollegen von der schreibenden und beratenden Zunft: Die Temperatur in Ihrem Kühlschrank hängt davon ab, wie Sie ihn eingestellt haben und wie oft Sie ihn öffnen. Ob Sie Ihr Schnitzel oberhalb oder unterhalb des Aufschnitts lagern, ist völlig bedeutungslos - aber das wussten Sie sicher auch selbst. Das gleiche gilt für die Kühltemperatur von Äpfeln oder was auch immer. Bei Äpfeln entscheidet dummerweise die Sorte über die richtige Temperatur - und auch das ist nur relevant, wenn die Frucht über Monate im gewerblichen Kühllager aufbewahrt werden soll.

Auch die Mitarbeiter staatlicher Aufklärungseinrichtungen, auf die sich "Bild" beruft, werden ihre Einkäufe vermutlich genauso in den Kühlschrank packen wie jeder andere Bürger auch: Man legt die Produkte gewöhnlich dorthin, wo gerade Platz ist, oder sich eine passende Halterung findet. Viel wichtiger ist im Kühlschrank die Hygiene! Und da gibt es zwei kritische Punkte: Erstens den Kühlschrank regelmäßig innen auswischen, denn da wimmelt es meist von Keimen. Zweitens sollte Gemüse, an dem bekanntlich Erdreste samt Keimen hängen können, nicht darunterliegende Speisen verunreinigen. Also unverpacktes Gemüse immer unten im Gemüsefach lagern - egal welche Temperatur den Experten gerade durch den Kopf geht.

Das Theater um das MHD trägt reichlich absurde Züge. Es ist geprägt von der Vorstellung, ein Lebensmittel sei entweder frisch und damit essbar oder verdorben und damit ungenießbar. Aber der Verderb ist ein langsamer Prozess, der genaugenommen bereits beim Verlassen der Fabrik beginnt. Diese Vorstellung zeigt uns aber, wie sehr die zahllosen Verbrauchertipps ums MHD den Kunden verdorben haben, der einst in seiner Küche frisch und unbefangen ans Werk ging. So wie das Kaninchen auf die Schlange, so starrt er auf die Packung und versucht ihr jene Geheimnisse zu entlocken, die nur ein beherztes Probieren preisgeben würde.

Das MHD ist ein Blick in die Zukunft, den der Hersteller aufgrund gesetzlicher Vorschriften wagt. Das MHD ist so vertrauenswürdig wie der Wetterbericht. Einfach deshalb, weil Produkte, die aus Pflanzen oder Tieren gewonnen wurden, auch noch nach der Verarbeitung ein unerwartetes Eigenleben entfalten können. Kein Produzent weiß zudem, was mit seinem Produkt passiert, wenn es einmal die Fabriktore verlassen hat. Er weiß nicht, wie fachkundig damit das Personal im Markt oder die Kundschaft später in der Küche umgeht. Wer an Lebensmittel die gleichen Maßstäbe anlegt, wie an ein Uhrwerk, dessen Räder die nötigen DIN-Normen erfüllen, soll sich nicht beschweren, wenn die Lebensmittelindustrie versucht, durch Bearbeitung diesem Ideal nachzueifern.

Die Lösung des MHD-Dilemmas liegt nicht in einem anderen Namen, sondern in einer anderen Deklaration. Die könnte lauten: "Verpackt am Soundsovielten. Haltbar gemacht durch nicht-deklarationspflichtige Zusätze. Bei sachgerechter Lagerung hält sich dieses Produkt mindestens drei Monate." Damit wäre doch alles gesagt, was wichtig ist. Mahlzeit!