Milo Rau über "Die 120 Tage von Sodom"

Die Orgie als Befreiungstat

Der Regisseur Milo Rau
Der Regisseur Milo Rau © dpa / picture alliance / Anton Novoderezhkin
Milo Rau im Gespräch mit Timo Grampes · 09.02.2017
Der Theaterregisseur Milo Rau wagt etwas Ungewöhnliches: Er bringt Pasolinis Gewaltorgie "Die 120 Tage von Sodom" als Stück auf die Bühne des Züricher Schauspielhauses. Die Opfer der Gewalt: Behinderte, die in unserer heutigen Zeit der Pränataldiagnostik nicht mehr erwünscht seien, sagt Rau.
Kann man mit behinderten Schauspielern den wohl umstrittensten Streifen der Filmgeschichte auf die Bühne bringen: "Die 120 Tage von Sodom"? 1975 war der Film von Pier Paolo Pasolini ein Skandal. Wie übersetzt man die darin gezeigten Sex-, Kot- und Gewaltorgien auf die Theaterbühne? Mehr noch: Theaterregisseur Milo Rau und das Schauspielhaus Zürich wagen dieses Experiment gemeinsam mit den geistig behinderten Schauspielern des Theater HORA, das 2016 mit dem Schweizer Theaterpreis ausgezeichnet wurde.

Opfer der Pränataldiagnostik

Milo Rau hat die von de Sade inspirierte Geschichte ins Heute transferiert: An die Stelle der Jugendlichen, die in dem Pasolini-Film in einem faschistischen Szenario in einem Schloss gefangen gehalten, gequält und schließlich getötet, regelrecht ausgelöscht werden, treten in Raus Inszenierung die Behinderten, die es – so Raus Botschaft – im Zeitalter der pränatalen Diagnostik bald nicht mehr geben wird.
"Weil tatsächlich diese Schauspieler – alle so um die 20 – eigentlich die letzten Generation von Behinderten sind, die überhaupt noch geboren wurden."

Eine Generation verschwindet

Mittlerweile würden neun von zehn Föten abgetrieben, bei denen nach einer Pränataldiagnostik eine Behinderung festgestellt werde. Dies komme der Auslöschung einer ganzen Generation gleich. Es sei geradezu "grotesk, dass diese Menschen verschwinden".
Beim Zusammenspiel der Ensemblemitglieder des Schauspielhauses mit den Schauspielern des Theater HORA habe sich etwas sehr Kreatives entwickelt – etwa so, wie wenn man die Musik einer irischen und einer kasachischen Band mische und daraus eine "dritte Musik" entstehe.
Am Ende würden alle Schauspieler des Stücks – nachdem sie Kot in sich hinein stopfen müssen – massakriert. Die Botschaft dahinter: Kot zu fressen habe eine befreiende Wirkung – als Höhepunkt der Anarchie.
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