Migrationsforscher Thomas Bauer

"200.000 Neuankömmlinge im Jahr sind zu bewältigen"

Migrationsforscher Prof. Dr. Thomas Bauer
Thomas Bauer, Vorsitzender des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration. © SVR/Dera
Thomas Bauer im Gespräch mit Annette Riedel · 24.02.2018
Die Integration von Migranten sei durchaus in den Dimensionen des Koalitionsvertrages zu schaffen, sagt der Migrationsforscher Thomas Bauer. Doch es bedürfe dazu durchgreifende Änderungen in der Flüchtlingspolitik.
Bei jährlich 200.000 Neuankömmlingen ist die Integration von Migranten in unsere Gesellschaft zu schaffen, sagt der Migrationsforscher Thomas Bauer.
Allerdings muss es dazu durchgreifende Änderungen in der Flüchtlingspolitik geben – auf europäischer Ebene, aber auch in Deutschland: In der Bildungspolitik etwa und bei den Asylverfahren.
Dabei stellen sich viele Fragen: Wieviel Europäisierung der Migrationspolitik ist nötig und möglich? Wie kann man das leidige Problem einer fairen Flüchtlingsverteilung in der EU angehen? Könnten und sollten Auffangzentren außerhalb der Europäischen Union helfen, illegale Migration nach Europa zu begrenzen?

Thomas Bauer ist Vorsitzender des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration. Er hat eine Professur für Empirische Wirtschaftsforschung an der Ruhr-Universität Bochum und ist Vizepräsident des RWI – Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen in der ökonomischen Migrationsforschung sowie der empirischen Bevölkerungs- und Arbeitsmarktökonomik.


Das Gespräch im Wortlaut:
Deutschlandfunk Kultur: Prof. Dr. Bauer, Sie sind Vorsitzender des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration. Wann ist für Sie ein Migrant in unserer Gesellschaft integriert?
Thomas Bauer: Ein Migrant ist endgültig wirklich integriert, wenn er sich einbürgern lässt. Dann ist er wirklich integriert und versteht sich als wirklich vollwertiges Mitglied dieser Gesellschaft.
Deutschlandfunk Kultur: Das ist aber eine hohe Schwelle. Da drunter geht es nicht?
Thomas Bauer: Da drunter geht es natürlich auch. Das ist im Grunde die Zielvorstellung, die am Ende optimal erreicht werden könnte. Wenn man eine Schwelle tiefer gehen würde, würde man sagen, man hat vollkommen gleichberechtigte Teilhabe an allem, was die Gesellschaft und das Leben in dieser Gesellschaft ausmacht. Das heißt Arbeit; das heißt, die Kinder gehen auf eine gute Schule; man kann deutsch sprechen – sehr, sehr wichtig für die Integration; man hat eine ausreichende Wohnung und man fühlt sich hier wohl.
Deutschlandfunk Kultur: Der Stiftungsrat, dem Sie vorsitzen, ist ein unabhängiges, interdisziplinäres Expertengremien, dem sieben Stiftungen angehören, darunter die Mercator-Stiftung, die Volkswagen-Stiftung, die Bertelsmann-Stiftung. Zielsetzung des Rates ist, zu migrations- und integrationspolitischen Themen nicht nur Stellung zu beziehen, sondern auch handlungsorientierte Hinweise an die Politik zu geben.
Kann Integration, Herr Prof. Bauer, gelingen, wenn jeden Monat ein paar Tausend Flüchtlinge zu uns kommen?
Thomas Bauer: Wenn es im niedrigen Tausenderbereich wäre, könnte man das durchaus stemmen.
Deutschlandfunk Kultur: Was ist "niedrig"? 200.000 im Jahr?
Thomas Bauer: 200.000 im Jahr könnte man wahrscheinlich durchaus stemmen. Was wir in den Jahren 2015, 2016 gesehen haben, ist schon sehr viel und bringt die Verwaltung, aber auch die Gesellschaft durchaus an die Grenzen.

Integrationsmaßnahmen

Deutschlandfunk Kultur: Das heißt also, diese Zahl, von der die Union und die SPD in ihren Koalitionsvereinbarungen ausgehen, ist eine, die mit dem Integrationsgedanken durchaus kompatibel ist?
Thomas Bauer: Wenn man noch einiges an unserem System und an unseren Integrationsmaßnahmen durchaus ändert.
Deutschlandfunk Kultur: Darauf werden wir gleich noch zu sprechen kommen.
Thomas Bauer: Aber das könnte man durchaus stemmen. Man darf aber nicht ausgehen von den Jahren 2015, 2016. Das haben wir nur einigermaßen gut geschafft, weil wir so viel hervorragendes freiwilliges Engagement der Bürger hatten und die Kommunen hier wirklich gezeigt haben, was sie können, die Behörden.
Deutschlandfunk Kultur: Nun ist das Numerische das eine. Ist es aber nicht auch abhängig davon, welchen kulturellen, religiösen, Bildungshintergrund die Ankömmlinge haben?

Bildungsniveau und Spracherwerb

Thomas Bauer: Integration gelingt natürlich besser insbesondere, wenn ein vergleichsweise hoher Bildungsstand gegeben ist. Dann lernt man eher die Sprache. Man kommt eher am Arbeitsmarkt an, integriert sich besser in ein neues System. Kultur spielt in Teilen eine Rolle. Was wir sehen ist natürlich, dass Migranten an ihrer alten Kultur auch festhalten.
Deutschlandfunk Kultur: Und je ferner die unserer ist, desto schwieriger ist es, wirklich zu integrieren?
Thomas Bauer: Nicht notwendigerweise. Man muss hier dann durchaus die Kultur, die hier ist, und unsere Werte vermitteln. Und man kann natürlich auch die Forderung stellen, dass gewisse Werte hier eingehalten werden müssen – wie Gleichberechtigung von Männern und Frauen. Das muss man durchaus vermitteln. Aber bei einem Großteil der Zuwanderer besteht ja auch nicht wirklich das Problem.
Deutschlandfunk Kultur: Und die Integrationskurse, die wir haben, die ja durchaus verpflichtend sind, können die das, was Sie Wertevermittlung, Normenvermittlung nennen, leisten? Oder ist das doch eher eine Alibiveranstaltung?

"Sie können niemanden zwingen, irgendwelche Werte anzunehmen"

Thomas Bauer: Nein, diese Integrationskurse sind ja zweigeteilt. Der weitaus größere Teil ist Sprachvermittlung und bei der Sprachvermittlung auch schon in gewisser Weise eine Vermittlung der Kultur hier und der Werte. Und der andere Teil ist wirklich Wertevermittlung. Das ist auch wichtig, die Werte, die hier sind, auch zu vermitteln.
Deutschlandfunk Kultur: Aber drüber zu reden, heißt noch nicht, dass man davon ausgehen kann, dass die Menschen es tatsächlich, vor allen Dingen, wenn es ihnen ziemlich fremd ist, fern ist, annehmen.
Thomas Bauer: Nun, das wird man nie können. Sie können niemanden zwingen, irgendwelche Werte anzunehmen. Sie können die nur vermitteln und gewisse zentrale Werte dann auch, wenn man die verletzt und man wird kriminell, mit Strafen belegen, was wir ja in unseren Gesetzen niedergelegt haben. Aber dass man es wirklich dann auch anwendet, das ist am Ende eine Frage, inwieweit die Zuwanderer diese Werte auch im alltäglichen Leben erleben und daran teilhaben und die dann so übernehmen über das tägliche Erleben dieser Werte und auch dann am Ende die Wertschätzung dieser Werte.
Deutschlandfunk Kultur: Sie haben das Stichwort Bildung schon angesprochen. Schulen gelten ja gemeinhin als Integrationsmotoren. Ist unser Schulsystem darauf eingerichtet? Und wir müssen wieder im Hinterkopf haben, die doch gewachsene Zahl von Menschen, die es da zu integrieren gilt.

"An der sozialen Durchlässigkeit an unseren Schulen müssen wir arbeiten"

Thomas Bauer: Unser Schulsystem zeichnet sich auch im internationalen Vergleich noch sehr stark dadurch aus, dass der schulische Erfolg sehr stark davon abhängt, aus welcher Familie sie kommen. Wenn sie aus einer Akademikerfamilie kommen, haben sie eine höhere Wahrscheinlichkeit, auch Akademiker zu werden. Wenn sie das nicht tun, ist die Wahrscheinlichkeit sehr niedrig.
Also, an der sozialen Durchlässigkeit an unseren Schulen müssen wir sicherlich arbeiten. Hier kommen gerade bei Zuwanderern noch andere Probleme hinzu, die nicht sehr einfach sind und über die wir sehr wenig wissen, weil wir in der Vergangenheit verpasst haben, unsere Maßnahmen auch wissenschaftlich zu begleiten und zu evaluieren, was funktioniert und was funktioniert nicht. Da stellen sich viele Fragen.
Beispielsweise Vorbereitungsklassen, Übergangsklassen nur für Zuwanderer: Da sitzen diese wieder in der eigenen Gruppe, kriegen keinen Kontakt mit den Einheimischen. Das mag am Anfang sinnvoll sein, um sie auf ein Niveau zu bringen, das in unseren Schulen herrscht, und die Sprache zu vermitteln. Andererseits, wenn Sie das zu lange machen, dann behindern Sie wieder die Integration.
Hier die richtige Balance zu finden, wie lange sollen sie denn getrennt vom Regelunterricht sein, wann sollen sie in den Regelunterricht einmünden, ist eine schwierige Frage und hängt bestimmt auch vom Alter ab. Mit Siebenjährigen wird das sehr viel einfacher sein, sie sofort in die Regelklasse zu nehmen, mit Zwölfjährigen ist das schwierig.
Deutschlandfunk Kultur: Wenn ich Sie richtig verstehe, plädieren Sie dafür, dass man keine spezielle – in Anführungsstrichen – Flüchtlingsbildung machen sollte. Auf der anderen Seite haben Sie dann natürlich auch wieder das Problem der Zahlen.
Haben Sie zwei, drei Kinder, die können sie leicht in eine Klasse aufnehmen. Die haben im Zweifel auch eine hohe Motivation, beispielsweise die Sprache zu lernen, weil sie ansonsten nicht kommunizieren können. Je größer die Zahl, desto geringer natürlich auch der Druck für das menschliche Bedürfnis zu kommunizieren, tatsächlich eine neue Sprache zu erlernen.
Thomas Bauer: Hier ist das Problem durchaus sehr evident. Das sehen wir jetzt nicht nur in der Flüchtlingsdiskussion, sondern insbesondere auch mit früheren Zuwanderern aus verschiedensten Ländern, dass wir an den Schulen eine hohe Segregation sehen. Die muss überwunden werden. Also, wenn wirklich nur zwei in jeder Schule sind oder vielleicht nur eins in jeder Klasse, dann ist das kein Problem. Wenn Sie die Mehrheit in der Klasse bilden, dann wird es ein großes Problem. Aber auch da wissen wir nicht, wie viele dürfen das denn eigentlich sein in der Klasse, dass es ein Problem wird.

Deutsch als Fremdsprache in der Lehrerausbildung

Deutschlandfunk Kultur: Und wir wissen natürlich auch nicht so genau, ob die Lehrer letztendlich in ihrer Ausbildung – beziehungsweise wir wissen ziemlich genau, dass es nicht passiert – wirklich auf diese Situation vorbereitet werden. Dann sind wir wieder bei dem Problem, dass wir so schnell wie möglich eine sehr große Zahl oder eine deutlich größere als in den Vorjahren integrieren müssen. Und auch die Lehrkräfte sind letztendlich überhaupt nicht darauf eingestellt.
Thomas Bauer: Das ist eine Forderung des Sachverständigenrats, dass eine Maßnahme sein muss, auch für zukünftige Zuwanderungsströme, die wir ganz sicher haben werden, hier Deutsch als Fremdsprache und den Umgang mit verschiedenen Ethnien, Kulturen als verpflichtendes Curriculum in die Lehrerausbildung aufzunehmen. Das sehen wir in einigen Bundesländern leider nicht im Augenblick.
Deutschlandfunk Kultur: Thema Ganztagsschule: Kann das ein Lösungsansatz sein – in Klammern –, wenn es eine echte Ganztagsschule und nicht nur eine Halbtagsschule mit anschließender "Aufbewahrung" sozusagen von Kindern ist?
Thomas Bauer: Wir sprechen hier von einem rhythmisierten Angebot. Das kann eine Lösung sein, weil dann zum einen die Kinder die Sprache schneller lernen. Wenn Sie hier wirklich Freizeitangebote mit Wissensvermittlung über den ganzen Tag hin mischen, dann ist es durchaus sehr, sehr sinnvoll.
Zum Zweiten ist es sinnvoll, weil Sie hier auch Möglichkeiten den Eltern dann eröffnen, auch wirklich Arbeit anzubieten, und zwar in der gesamten Familie, was dann die Integration wiederum fördern kann.

"Je älter die Menschen sind, desto schwieriger ist der Integrationsprozess"

Deutschlandfunk Kultur: Je älter die Menschen sind, die kommen, auch die Kinder, desto schwieriger ist ja der Integrationsprozess. Und viele sind irgendwo an der Schwelle: zu alt für die Schule, zu jung für Berufsausbildung.
Was ist von Überlegungen zu halten, zu sagen, wir müssen auch unsere Berufsausbildung, das duale System, umgestalten, und zwar – etwas analog gedacht zum Studiensystem –, dass es so etwas gibt wie eine Basisausbildung, Bachelor wäre es beim Studium, und anschließend eine Spezialisierung, Master wäre es analog beim Studium? Macht so was Sinn? Oder schafft man dann tatsächlich letztendlich so eine Zweiklassenausbildung? Das ist das für die Dummen und das ist das, was sozusagen dann in der Berufswelt auch wirklich zählt.
Thomas Bauer: Wir sehen es nicht nur für notwendig, auf ein flexibleres duales System zu gehen, nicht nur vor dem Hintergrund der Flüchtlingszuwanderung, sondern auch vor dem Hintergrund, dass wir immer noch sehr viele Langzeitarbeitslose haben und durchaus auch sehr viele jugendliche Langzeitarbeitslose, die keine Ausbildung haben.
Da muss man einfach feststellen, gerade auch bei den Flüchtlingen, viele werden allein die theoretische Prüfung in der dualen Ausbildung realistischer Weise nicht schaffen.
Deutschlandfunk Kultur: Aber dann senkt man die Standards. Das bringt es doch auch nicht.
Thomas Bauer: Ja. Man muss auch mehr Zeit geben. Das Zeitproblem ist das zweite Problem. Von daher wäre eine modulare Ausbildung, wie wir sie bei den Kranken- und Altenpflegern inzwischen ja durchaus eingeführt haben, ja nichts Neues. Wir haben ja schon ein Beispiel, wo das Ganze eingeführt worden ist. Aber man könnte zumindest in einem Arbeitsmarkt, der so viel auf Zertifizierung setzt, wie der deutsche Arbeitsmarkt, ein Zertifikat in die Hand geben.
Deutschlandfunk Kultur: Aber wenn es keinen Wert hat, macht das doch auch keinen Sinn.
Thomas Bauer: Ich glaube schon, dass das durchaus einen Wert hat, wenn es zertifiziert wird.
Deutschlandfunk Kultur: Aber beim Studium sieht man doch beispielsweise, dass genau das das Problem ist, dass der Bachelor eigentlich als Studienabschluss, jedenfalls in einigen Fächern, fast wertlos ist.

Plädoyer für Teilzeitausbildung

Thomas Bauer: In einigen Fächern ist er sicherlich wertlos. In anderen Fächern ist er sehr erfolgreich. Ich glaube, man muss hier einfach auch mal ein bisschen neu denken und neue Sachen versuchen, um dieses Problem zu lösen, um von dieser Alles-oder-Nichts-Entscheidung wegzukommen und irgendwas dazwischen reinzuschieben, was wichtig ist.
Ein zweites Problem bei der dualen Berufsausbildung ist, nicht nur vor dem Hintergrund der Flüchtlinge, sondern anderen Problemgruppen auch, der Zeitaspekt. Wenn Sie jetzt 22 Jahre alt sind, sehr lange warten müssen, bis ihr Asylantrag anerkannt ist, dann haben Sie die Anerkennung, dann müssen Sie zwei Jahre die deutsche Sprache lernen. Dann müssen Sie nochmal zwei Jahre in einen Vorbereitungskurs und dann nochmal zwei Jahre Lehrlingsausbildung drauf legen. – Das können und wollen viele einfach nicht tun. Dann gehen sie lieber in Helfertätigkeiten, was nicht nachhaltig ist.
Von daher gesehen plädieren wir beispielsweise auch dafür, Teilzeitausbildung zu stärken, um die Möglichkeit zu geben, einerseits Geld zu verdienen, andererseits einen Abschluss zu bekommen. Wie das dann aufgenommen werden würde, ist eine vollkommen andere Frage, aber es ist zumindest der Versuch, hier die Anreize zu setzen, eine Ausbildung zu bekommen.
Deutschlandfunk Kultur: Herr Prof. Dr. Bauer, die Koalitionsvereinbarungen von Union und SPD, über die jetzt die SPD-Mitglieder in diesen Tagen abzustimmen haben, befasst sich in mehreren Kapiteln mit dem Thema Migration, Flüchtlinge, Integration. Unter der Überschrift "effizientere Verfahren" wollen die möglichen Großkoalitionäre in spe, dass Asylverfahren künftig in sogenannten "Anker-Zentren" abwickeln. Das heißt, es sollen zentrale Einrichtungen geschaffen werden, in denen dann die gesamten Asylverfahren durchgeführt werden sollen, also, von der Erstaufnahme über Identitätsfeststellung, Entscheidung über den Asylantrag, Verteilung über die Bundesrepublik von da oder eben Abschiebung im Fall der Ablehnung.
Ist das ein sehr kluger Alles-aus-einer-Hand-Ansatz oder ist das schlussendlich nur ein Element des Abschreckens?

Schnellere, effizientere und rechtssicherere Asylverfahren

Thomas Bauer: Wenn es überwiegend ein Element des Abschreckens wäre, dann hätten wir durchaus Probleme damit. Aber im Koalitionsvertrag steht relativ eindeutig, dass diese Anker-Einrichtungen dazu führen sollen, dass die Asylverfahren schneller werden, effizienter werden und rechtssicherer werden.
Wenn das mit einigen zusätzlichen Voraussetzungen erreicht wird, die in solchen Einrichtungen gegeben sein sollten, dann ist es durchaus ein wichtiges Ziel. Weil, schnelle Asylverfahren führen einfach zu schnellerer Sicherheit, was passiert denn jetzt eigentlich. Man kann Integrationsmaßnahmen schneller durchführen. Hier spielt wiederum die Zeit durchaus eine Rolle. Man hat relativ schnelle Klarheit, wenn dies sein sollte. Und es würde dann nicht teilweise über ein Jahr dauern.
Deutschlandfunk Kultur: Kritiker sagen, dass das letztendlich der weiteren Abschottung von Migranten dient und integrationsfeindlich ist. Wenn ich Sie eben gehört habe beim Thema Bildung, wie wichtig es ist, dass tatsächlich Kontakte da sind, auch gerade für das Moment des Spracherwerbs, dann ist doch die Tatsache, dass Menschen bis zu 18 Monate – wenn es gut geht –, jedenfalls über eine längere Phase vollkommen abgeschottet sind, absolut integrationsfeindlich.

"Es muss Zugang zu Integrationsmaßnahmen geben"

Thomas Bauer: Das ist eine Voraussetzung, die an diese Anker-Zentren, wenn sie eingerichtet werden, zu stellen ist, dass in diesen Zentren auch bereits Integrationsmaßnahmen ergriffen werden. Was ja sehr wichtig ist, ist beispielsweise, dass Kinder und Jugendliche nach spätestens drei Monaten auch in diesen Zentren beschult werden. Da haben wir eine Verpflichtung dazu.
Deutschlandfunk Kultur: Was ja in den Bundesländern sehr unterschiedlich gehandhabt wird. Man braucht einen festen Wohnsitz. Und ob das dann als solcher anerkannt wird, ist noch die Frage oder ist unterschiedlich je Bundesland.
Thomas Bauer: Ja. Wir haben eine vertragliche EU-Verpflichtung, das zu gewährleisten, dass nach spätestens drei Monaten die Kinder und Jugendlichen beschult werden. Und das müssen wir auch leisten, auch in diesen Zentren.
Es muss Zugang zu Integrationsmaßnahmen geben. Es muss auch Kontakte mit der einheimischen Bevölkerung geben. Es muss vollständigen Zugang zu Asylberatung geben. Wenn das alles gewährleistet ist und die Verfahren wirklich sehr schnell durchgeführt werden können, so dass wir niemals an diese 18 Monate herankommen, dann wäre das durchaus positiv zu beurteilen.
Deutschlandfunk Kultur: Bis zuletzt bei den Koalitionsverhandlungen umstritten war das Thema Familiennachzug, und zwar für jene Menschen, die zwar nicht persönlich verfolgt werden, die aber aufgrund etwa einer Kriegssituation in ihrem Heimatland nicht dorthin zurückkehren können. Sie gelten als eingeschränkt schutzbedürftig. Diese Menschen dürfen seit zwei Jahren Familienangehörige nicht nach Deutschland nachholen. Ab August soll sich das wieder ändern. Dann soll es in der Summe möglich sein, bis zu tausend enge Familienangehörige pro Monat nachzuholen. Zusätzlich soll es auch noch eine Härtefallregelung geben.
Das mag vielleicht aus Integrationsgründen sinnvoll sein, aber wirkt es nicht doch dem Charakter des vorübergehenden Aufenthalts entgegen?

"Familie fördert die Integration sehr, sehr stark"

Thomas Bauer: Vorübergehend ist ein sehr weiter Begriff. Wenn wir hier von ein oder zwei Jahren sprechen, dann könnte man sich diesem eher ordnungspolitischen Argument wahrscheinlich eher anschließen. Wir wissen aber nicht, wie lange es dauert. Die Erfahrung ist, wir sprechen hier von fünf bis 15 Jahren. Wenn wir hier keine Integration vornehmen, dann sind die Kosten auch für unsere Gesellschaft weit höher, wenn wir diese Integration nicht hinbekommen.
Von daher gesehen, ist die Familienzusammenführung wirklich deswegen wichtig, weil die Familie die Integration, und das wissen wir aus sehr vielen empirischen Studien, sehr, sehr stark fördert. Sie haben hier also einen sehr schwierigen Balanceakt zwischen ordnungspolitischen und integrationspolitischen Argumenten.
Deutschlandfunk Kultur: Aber Sie haben auch ein Dilemma. Denn eigentlich ist Sinn und Ziel der Übung, dass die Menschen integriert werden. Je besser sie integriert sind, dann vielleicht eben auch mit der Familie, die mit ihnen hier bei uns lebt, desto weniger ist eigentlich zu vermitteln, weder ihnen noch der Gesellschaft, warum man sie dann an einem Punkt X – gut integriert: Sprache, Ausbildung, Kinder, Schule – in ihr Land zurückschickt, nach zehn Jahren beispielsweise, wo ja dann auch der Bezug zu der Heimat komplett verloren gegangen ist.
Thomas Bauer: Ja. Das Ganze muss komplementiert werden mit einer Möglichkeit, in einen anderen Status zu wechseln mit einem permanenten Aufenthaltsrecht, mit Voraussetzungen, die Sie schon genannt haben. Wenn sich wirklich jemand gut integriert, die deutsche Sprache lernt, sich und die Familie aus seiner Berufstätigkeit selbst ernähren kann, nicht kriminell geworden ist, dann sollte man nach einer gewissen Zeit auch sagen, mit der Duldung ist jetzt Schluss, du darfst jetzt hierbleiben, wenn du hierbleiben willst. Diesen Weg muss man auch eröffnen.
Deutschlandfunk Kultur: Man muss aber auch konsequent abschieben, sagt beispielsweise der bayerische Innenminister gerade dieser Tage. "Mit jeder konsequenten Abschiebung setzt der Rechtsstaat ein Zeichen." – Schiebt Deutschland nicht genug ab?
Thomas Bauer: Abschiebungen sind sehr, sehr schwierig. Das liegt zum einen daran: Die Entscheidung über den Asylentscheid trifft eine Bundesbehörde, das BAMF. Und die Abschiebung ist dann auf Länderebene. Und kein lokaler Politiker hat diese Bilder einer zwangsweisen Abschiebung sehr, sehr gerne.

"Wenn ein Asylantrag abgelehnt worden ist, dann gibt es kein Aufenthaltsrecht"

Deutschlandfunk Kultur: Aber muss es nicht komplementär so sein, um wirklich das Recht auf Asyl, auf Schutz zu wahren, dass diejenigen, die aus welchen Gründen auch immer für nicht schutzwürdig befunden werden, dann eben wieder gehen, so sehr das auch schmerzen mag?
Thomas Bauer: Wir haben gerade gesprochen, dass irgendwann mal auch eine Bleibeperspektive eröffnet werden muss. Aber es ist schon richtig: Wenn ein Asylantrag abgelehnt worden ist, dann gibt es kein Aufenthaltsrecht. In einem Rechtsstaat muss man diesem Recht dann auch Geltung verschaffen und abschieben. Wie man das macht, ist wieder eine vollkommen andere Frage.
Wenn man das nicht macht, dann untergräbt man über kurz oder lang das gesamte Asylsystem und schadet wirklich denen, die wirklich Schutz brauchen. Allein das ist schon ein Argument, das dann auch wirklich konsequent zu machen.
Deutschlandfunk Kultur: Im Jahresgutachten 2017 des Sachverständigenrats deutscher Stiftung für Integration und Migration, dessen Vorsitzender Sie sind, Herr Bauer, sprechen sich die Experten in neun Kernbotschaften für teilweise durchgreifende Veränderungen der Asyl- und Flüchtlingspolitik nicht nur in Deutschland, sondern auch in Europa aus. Das Gemeinsame Europäische Asylsystem soll auch weiterentwickelt werden. Das will man in der EU in den nächsten Monaten machen. Ziel ist, die Verfahren und die Standards anzugleichen – also bei der Aufnahme, bei der Anerkennung, bei den Leistungen, die Flüchtlinge bekommen.
Jetzt wird das eigentlich seit 15 Jahren mindestens versucht. Warum sollte es jetzt auf einmal auf europäischer Ebene, wo wir die Spannungen, die da über der Flüchtlingspolitik entstanden sind, nur zu gut kennen, plötzlich klappen?
Thomas Bauer: Relativ klar ist, dass wir etwas verändern müssen. Das Dublin-System…
Deutschlandfunk Kultur: ... das System, nach dem in demjenigen EU-Land die Asylverfahren durchgeführt werden, wo ein Flüchtling oder Asylbewerber erstmals europäischen Boden betritt.

"Erste Schritte zu europäischem BAMF"

Thomas Bauer: Das Dublin-System hat funktioniert bei relativ geringen Flüchtlingszahlen. Wir denken hier, dass in gewissen Bereichen wirklich dieses Problem nur auf europäischer Ebene gelöst werden kann, wir also da mehr Europa brauchen. Das bedeutet einheitliche Asylverfahren.
Deutschlandfunk Kultur: Es bedeutete letztendlich vielleicht sogar konsequenterweise eine gemeinsame europäische Asylbehörde, die genauso sinnvoll wie unwahrscheinlich ist, dass sie zustande kommt.
Thomas Bauer: So unwahrscheinlich sehe ich das nicht. Es gibt wichtige erste Schritte hin zu einem – ich nenne das mal – europäischen BAMF. Das würde bedeuten, man würde in dem Dublin-System bleiben, es aber erweitern. Also, wenn beispielsweise Flüchtlinge in Griechenland ankommen, würden sie in ein europäisches Asylverfahren gehen, das von der gesamten Europäischen Union finanziert wird, mit europäischen Beamten durchgeführt wird, nach einheitlichen Standards.
Aber dann kommt das zweite Problem: Die Rückführung im Falle eines abgelehnten Asylbescheids wäre dann auch wieder auf europäischer Ebene zu lösen.
Deutschlandfunk Kultur: Und wir hätten weiter das leidige spalterische Problem der Verteilung.
Zwangsweise Verteilung von Flüchtlingen in der EU funktioniert nicht
Thomas Bauer: Das ist das größte Problem. Das größte Problem ist, wie dann anerkannte Flüchtlinge auf die verschiedenen europäischen Staaten verteilt werden, was dann natürlich auch, wenn Sie das zwangsweise machen, mit Sekundärmigration zu tun hat. Am Ende werden wir dann wahrscheinlich doch wieder nur in wenigen Ländern landen, weil sie dann irgendwann mal sich nochmal auf den Weg machen werden.
Die zwangsweise Allokation, Verteilung der Flüchtlinge wird nicht funktionieren, nicht nur aufgrund der ablehnenden Haltung von einigen europäischen Ländern, sondern auch wegen dem Problem der Sekundärwanderung – also, dass sich die Flüchtlinge nochmal auf den Weg machen, wenn sie nicht in dem Zielland sind, in dem sie gerne landen wollen.
Deutschlandfunk Kultur: Was halten Sie denn in dem Zusammenhang von der Idee der sogenannten oder auch "flexiblen Solidarität" – will sagen, dass einige Länder, ja gerade auch osteuropäische Länder, die sich strikt weigern, Beschlüssen des Europäischen Gerichtshofes zum Trotz, tatsächlich eine gewisse Anzahl von Flüchtlingen aufzunehmen, dass diejenigen Länder dann zahlen, und zwar eine Kompensation an andere EU-Länder – Schweden, Deutschland beispielsweise –, die ihr Soll an Aufnahmen übererfüllen?

Kompensationszahlungen von Ländern, die sich weigern, Flüchtlinge aufzunehmen

Thomas Bauer: Das wäre durchaus eine Lösung. Sie müssen halt dann ein Preisschild auf jeden Flüchtling machen, was durchaus auch nicht so ganz unproblematisch ist, diesen Preis dann auch zu finden, den richtigen Preis, der dann im Grunde die Integrationskosten und die anderen Kosten reflektieren sollte. Das wäre sicherlich eine Möglichkeit, dieses Verteilungsproblem zu lösen.
Es gibt noch andere, wenn Sie einige Bestrebungen einiger Kommunen sehen. Nicht nur einiger Kommunen in Deutschland, sondern beispielsweise in Italien gibt es Kommunen, die sagen: Schickt uns die Flüchtlinge, ansonsten gibt es unsere Stadt in zehn Jahren nicht mehr, weil wir so stark altern.
Deutschlandfunk Kultur: Also Flüchtlinge gegen Landflucht?
Thomas Bauer: Zum Beispiel, ja. Man könnte sich vorstellen zu sagen: Ja, die Kommune XY möchte einen Flüchtling haben, der die und die Berufserfahrung hat, und würde den gern aufnehmen und hat auch die Integrationsinfrastruktur, um das zu gewährleisten, um hier eine schnelle Integration hinzukriegen. Das ist zumindest ein Versuch, hier auf eine Art zweiseitiger Freiwilligkeit diese Verteilung hinzubekommen, was immer besser ist als ein Zwang.
Wenn die Integration im Übrigen auch sehr schnell in diesen Städten gelingt, dann werden die auch nicht mehr weggehen. Das zeigen auch unsere Erfahrungen aus der Vergangenheit.
Man kann sich hier einige Maßnahmen denken, die in Teilen dieses Verteilungssystems zumindest zu einer Lösung beitragen könnten. Es sind nur Ideen, wie man es angehen könnte, aber diese Verteilung wird weiterhin das große Problem bleiben.
Deutschlandfunk Kultur: Durch die Diskussion zum Thema wabert auch immer mal wieder das Stichwort "Aufnahmezentren" außerhalb der EU, beispielsweise in Libyen, wo die Asylanträge dann in entsprechenden Aufnahmezentren gestellt und abgewickelt werden könnten und die Menschen dann legal nach Europa kommen können, die anerkannt werden, und die anderen eben von dort aus zurückgeschickt würden.
Die Kritik, die dann an solchen Gedankenspielen kommt, ist immer wieder: Die EU schottet sich ab damit und verlagert das Problem im Herkunftstransit in Nachbarländer, die sehr viel ärmer sind und damit letztendlich gibt es eine Abschiebung von Lasten an Ärmere.
Idee von Aufnahmezentren außerhalb der EU "nicht sofort vom Tisch wischen"
Thomas Bauer: Ich glaube, auch hier muss man den Blick ein bisschen erweitern und diese Idee nicht sofort vom Tisch wischen. Ich komme gleich zu den Einschränkungen, aber das ist im Grunde der Versuch, Leute davon abzuhalten, den lebensgefährlichen Weg zu gehen.
Deutschlandfunk Kultur: Ja, so wird es verkauft, aber es ist auch der Versuch, sich das Problem ein Stückweit vom Halse zu halten.
Thomas Bauer: Ja. Ich komme gleich dazu. – Also, das Retten von Leben ist wirklich das stärkste Argument, so etwas nicht von vornherein vom Tisch zu wischen. Das würde aber einhergehen mit erheblichen Voraussetzungen an solche Zentren, wo wir als Sachverständigenrat durchaus einen sehr weiten Weg sehen, dass das passiert.

Viele offene Fragen bei Auslagerung von Asylverfahren aus der EU

Zum einen müssten wir uns beispielsweise als eine Voraussetzung schon einmal einigen auf ein gemeinsames EU-Asylsystem. Wir bräuchten also ein europäisches BAMF mit einheitlichen Regeln, ein Bundesamt für Migration und Flüchtlinge auf europäischer Ebene, um hier zu einheitlichen Regelungen zu kommen, die alle EU-Länder akzeptieren.
Deutschlandfunk Kultur: Vielleicht würden sie es aber tun, wenn sie das Gefühl hätten, wir haben dann damit nix mehr zu tun.
Thomas Bauer: Ja. Dann sind wir ja auf einem fremden Territorium. Die Frage muss, mal abgesehen davon, dass es vollkommen selbstverständlich ist, dass diese Zentren dann alle Menschenrechte wirklich erfüllen, die wir haben, dass eine menschenwürdige Unterbringung gewährleistet ist…
Deutschlandfunk Kultur: Und das in einem Land wie Libyen beispielsweise?
Thomas Bauer: Ja, das muss gewährleistet werden. Drum sage ich ja, die Probleme sind sehr, sehr hoch und die Anforderungen sind sehr, sehr hoch. Daher sind die Probleme sehr, sehr hoch.
Wer soll dann auf einem außereuropäischen Territorium diese Entscheidungen durchführen? Wer führt wieder in die Herkunftsländer zurück? Das sind alles Fragen, die müssen im Vorfeld geklärt werden. Und das sind so schwierige Probleme, dass wir hier in absehbarer Zeit eigentlich keine vernünftige Lösung sehen.
Deutschlandfunk Kultur: Herr Prof. Bauer, wo sind denn Ihre eigenen Erfahrungen und Berührungspunkte mit Migranten und/ oder Flüchtlingen?
Thomas Bauer: Im täglichen Leben. Ich bin an einer Universität. Universitäten und ein Forschungsinstitut zeichnen sich dadurch aus, dass üblicherweise aus aller Herren Länder eben überwiegend Wissenschaftler hier zusammenarbeiten.
Deutschlandfunk Kultur: Gut, aber das ist nur die "höchstintegrierte Sorte".
Thomas Bauer: Das ist die höchst integrierte Sorte. Natürlich komme ich mit Flüchtlingen in Berührung, allein in meiner Nachbarschaft, wo ich in Flüchtlingsunterkünften bin. Wir können in Deutschland eigentlich, zumindest in Großstädten, nicht wirklich dran vorbeigehen. Jeder Fünfte in Deutschland hat Migrationshintergrund.
Deutschlandfunk Kultur: Vielen Dank für das Gespräch.
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