Migration

Guter Fluchthelfer - böser Schleuser

Von Maik Baumgärtner und Thilo Schmidt · 26.02.2014
Wer DDR-Bürger nach Westen schleuste, tat ein gutes Werk? Schleuser heute sind Kriminelle? - Fluchthilfe im Kalten Krieg und in der globalisierten Welt.
Grenzen werden überwunden, immer. Mögen sie durch Stacheldraht oder noch so hohe Mauern geschützt sein. Die einen rüsten auf, um die Grenzen zu verteidigen, die anderen suchen und finden Schlupflöcher. Sie heißen Fluchthelfer im guten Sinne und Schleuser oder Schlepper im Schlechten. In der Zeit des Kalten Krieges und der deutschen Teilung hat der Ost-Berliner Arzt Bernd Arlt 45.000 D-Mark bezahlt, damit ein Fluchthelfer ihn und seine Familie in den Westen bringt.
Bernd Arlt: "Ja, erstens war es die Erkenntnis, dass die DDR keine Perspektive hat. Es ist eigentlich immer schlechter geworden, von Jahr zu Jahr. Zweitens waren es die politischen Verhältnisse, die einem aufgezwungen wurden. Man hatte keine persönliche Entwicklungsmöglichkeit, wenn man nicht in der Partei war, kam man ohnehin nicht weiter vorwärts. Zum Beispiel in spätere leitende Positionen. Wir waren damals Assistenzärzte in der Facharztausbildung, und später, kurz vor unserer Flucht, waren wir beide Fachärzte. Meine Frau für Anästhesie und ich für Chirurgie. Wenn man sich orientiert hatte nach dem Westen, da haben die Ärzte deutlich besser verdient, konnten besser leben. Wir haben ungefähr zehn Jahre gesucht, um einen einigermaßen sicheren Weg zu finden, und dann ist es uns im Februar '73 gelungen."
Suchten DDR-Bürger anfangs noch Lücken im Grenzsystem, wurde dies mit zunehmender Abschottung und Perfektionierung der innerdeutschen Grenze nahezu unmöglich.
Bernd Arlt: "Na ja, wir haben es zum Beispiel versucht über einen Auslandseinsatz in Afrika, der ist im letzten Moment durch die Staatssicherheit vereitelt worden, weil wir eben nicht linientreu waren, weil wir nicht geflaggt haben, zu Feiertagen, zum Beispiel 1. Mai, das wurde alles registriert, und eigentlich erst kurz vor der Abreise wurde uns gesagt: Nein, das geht nicht, Wir haben es versucht mit dem Paddelboot, und inzwischen war dann unser Sohn da, so dass wir diesen Weg dann auch nicht mehr gehen konnten."
Fluchthelfer wurden für den erfolgreichen, illegalen Grenzübertritt zunehmend unentbehrlich. Hatten sie anfangs noch hehre Motive, professionalisierte und kommerzialisierte sich das System. Für die DDR-Organe waren sie "Menschenschmuggler", ihre bekannten Köpfe "Gangsterbosse".
Bernd Arlt: "Ja, und dann haben wir immer wieder überlegt, wie es geht, und dann kam endlich 1972 dieser Vertrag mit der SPD-geführten Bundesregierung, dass Transitfahrzeuge nicht mehr kontrolliert werden, außer, es liegen besondere Vorkommnisse vor, die erfasst wurden, und es ergab sich dann die Fluchthilfe auf den Tranistwegen, die wir dann ausgenutzt haben."
Fabian Georgi, Politologe und Experte für Migrationspolitik: "Vor '89 hat 'ne Sichtweise dominiert, die das als, vielleicht nicht unbedingt ehrenhaft – aber als legitim verstanden hat. Es gab ja dieses Gerichtsurteil vom BGH, 1980, wo ein Fluchthelfer aus der BRD nach einer gescheiterten Flucht gesagt hat: Ich will meinen Vorschuss von meinen Verwandten in Westdeutschland wiederhaben, und der BGH hat dem letztendlich stattgegeben, mit dem Argument, das seien legitime, letztlich edle Motive. Man könnte auch sagen: Jemandem aus Syrien heute zu helfen ist auch ein edles Motiv, aber solche Leute werden eher massiv verfolgt."
Achmed: "Die russischen Behörden haben mich verfolgt. Ich habe am ersten tschetschenischen Krieg teilgenommen. Ich war Bürgermeister von meinem Dorf. Und nachdem mein Dorf besetzt worden war, bin ich mit anderen Leuten aus meinem Dorf in die Berge gegangen."
Achmed erlebte in den 1990er-Jahren zwei Kriege
Achmed sieht sich um in der Souterrain-Kneipe in Berlin-Kreuzberg. Ob es hier auch keine "Ohren" gäbe, fragt er und meint damit versteckte Wanzen. Achmed heißt in Wirklichkeit anders. Er hat uns seine Geschichte erzählt, aber zu seinem Schutz ist seine Stimme nachgesprochen.
Achmed: "Als der zweite Krieg ausbrach, musste ich wieder mein Dorf verlassen und wieder in die Berge gehen. Und dann wurde es aber in den Bergen auch zu eng, dann bin ich wieder nach unten gegangen. Und habe mich versteckt. Und so habe ich auf der Flucht neun Monate in unterschiedlichen Dörfern gelebt. Und die Verfolgung wurde aber immer stärker. Ich habe in diesen neun Monaten vielleicht drei Mal zu Hause übernachten können. Und richtig schlafen konnte ich auch nicht.
Und dann kam es zu einem Vorfall, als ich im Nachbardorf gewesen bin. In dieser Nacht haben die gedacht, dass ich zu Hause bin. Und wollten mich dann zu Hause schnappen. Aber ich war ja am Abend zuvor schon geflüchtet, und so haben sie nur meine Frau und meine Kinder vorgefunden. Die waren natürlich total erschrocken. Sie haben Gewehre auf sie gerichtet und sie als lebendes Schutzschild benutzt."

Tschetschenien erlebte zwei Kriege nach dem Ende der UdSSR. Den ersten von 1994 bis 1996. Der zweite begann 1999 und wurde durch Russland erst 2009 offiziell für beendet erklärt. Die Zahl der Toten geht in die Zehntausende, Hundertausende flüchteten. Achmed lehnt Ramsan Kadyrow, das aktuelle Staatsoberhaupt Tschetscheniens ebenso ab wie die Politik Russlands unter Vladimir Putin. Er ist ein ebenso erbitterter Gegner der Islamisten des Kaukasus-Emirats.
Achmed: "Nach dem dritten Überfall habe ich entschieden, dass ich auswandern muss. Ich konnte meine Familie nicht länger diesem Risiko aussetzen. Es fiel mir nicht leicht, meine Heimat zu verlassen. Zuerst bin ich nach Baku ausgewandert. Das war sehr gefährlich, dort über die Grenze zu gehen. Da hatte ich auch Glück. Es gab dort einen Aserbaidschaner, der aus Russland nach Hause gefahren ist, weil er ein Telegramm bekommen hatte, dass in seiner Familie jemand verstorben war. Und deswegen bin ich ganz einfach ausgereist. Und ich habe dann sechs Jahre in Aserbaidschan gelebt, weil ich nicht zu weit weg von zu Hause sein wollte."
Die Flucht aus Tschetschenien war nicht umsonst. 2000 Rubel bezahlte Achmed dem Schleuser, der ihn nach Aserbaidschan brachte.
Achmed: "Nach sechs Jahren habe ich eine Magenblutung bekommen und bin beinahe daran gestorben. Ich habe mich dann entschieden, noch weiter nach Europa zu wandern, weil ich kein Vertrauen in die aserbaidschanischen Ärzte hatte."
Flucht im Kofferraum, der Sohn bekam eine Schlaftablette
30 Jahre früher und 2000 Kilometer nordwestlich bereitet sich der Ostberliner Arzt Bernd Arlt auf seine Flucht von Ost- nach Westberlin vor. Ein Kollege hat ihn an den Fluchthelfer vermittelt, der ihn und seine Familie über die Transitautobahn in den Westen bringen sollte.
Bernd Arlt: "Ein sogenanntes Zubringerfahrzeug fuhr von Westberlin speziell nach Leipzig, hatte ein Tagesvisum, wurde bei der Ein- und Ausreise kontrolliert, dieses Fahrzeug hatte uns aufgenommen und zu einem bestimmten Zeitpunkt auf die Autobahn-Transitstrecke von Hof nach Berlin gebracht, und dann kam das Transitfahrzeug, Richtung Berlin, und dann sind wir blitzschnell vom Zubringerfahrzeug in den Kofferraum des Transitfahrzeuges, meine Frau zuerst, und der Sohn, der geschlafen hat – weil wir ihm eine Schlaftablette gegeben haben. Und dann ich. Und wir lagen dann zu dritt im Kofferraum eines Mercedes 250. Und dann ging es auf Berlin zu. Und dann standen wir an der Grenze, für uns eine längere Zeit. Der Motor musste ausgemacht werden, das Radio musste ausgemacht werden, man klopfte auf den Kofferraum, der Sohn ist Gott sei Dank nicht munter geworden. Und dann ging es in der Schlangenlinie weiter, und dann hielten wir an einer Aral-Tankstelle, dann ging der Kofferraum auf, und da wussten wir: Wir haben es geschafft."
Fluchthilfeorganisationen. So nannte man in Westdeutschland die Gruppen, die heute Schlepperbanden heißen. Das Thema Flucht für Geld beschäftigte 1980 auch den Bundesgerichtshof. Ein Fluchthelfer scheiterte beim Versuch, einen DDR-Bürger in den Westen zu bringen, trotzdem verlangte er seinen vereinbarten Vorschuss von seinem westdeutschen Auftraggeber. Der BGH gab ihm Recht: "Es sei nicht in jedem Fall anstößig, eine Hilfeleistung, selbst für einen Menschen in einer Notlage, von einer Vergütung abhängig zu machen", urteilten die Richter. Beträge im unteren sechsstelligen Bereich pro Person seien "im Hinblick auf hohe Unkosten des Fluchthelfers nicht als überhöht" zu bewerten.
Fabian Georgi: "Ich glaube, man muss zwei Verschiebungen sich mindestens anschauen, die erste offensichtliche Verschiebung ist das Ende des Kalten Krieges. Vor dem Ende des Kalten Krieges war die Flucht – und die Fluchthelfer – ne ideologische Ressource im Kalten Krieg. Dadurch, dass Menschen geflohen sind, dass ihnen geholfen wurde, konnte der Westen, die Staaten, die Medieneliten, konnten sagen: Seht, wie schlecht sind die Bedingungen im Ostblock, es ist unterdrückend, es ist diktatorisch, die Menschen haben keine Wahl, als große Gefahren auf sich zu nehmen, wir nehmen sie auf, großzügig, und die Menschen, die ihnen helfen, die erkennen wir auch als Helden an."
Bernd Arlt: "Und als wir dann in Iserlohn waren, sind wir mit offenen Armen empfangen worden, wir haben gleich Positionen bekommen, meine Frau wurde Oberärztin, ich wurde Assistenzarzt, in Oberarztfunktion, in Iserlohn, und da waren wir ganz schnell versorgt."
Nicht alle Schleuser verlangen Geld
Aserbaidschan, Anfang des vergangenen Jahrzehnts. Achmed macht sich auf den Weg nach Polen. Ohne seine Familie.
Achmed: "Bei der Ausreise hat mir ein Pole geholfen, das war ein älterer Mensch, schon etwa 70 Jahre alt. Und so bin ich nach Polen gekommen. Ich habe ihm nichts gezahlt, und er hätte auch kein Geld angenommen. Später habe ich erfahren, dass er noch vielen anderen geholfen hatte. Auch andere Familien hat er über die Karpaten gebracht."
Mit dem Zug und mit einigen Tricks macht sich Achmeds Familie, die sich noch in Tschetschenien aufhält, auf den Weg nach Polen.
Achmed: "Ich dachte nur: Egal, was passiert, ich falle nicht den Russen in die Hände. Und deswegen riskieren wir auch weiter etwas. Und ich habe dann in Polen auf meine Familie gewartet. Und als sie da waren, sind wir dann mit dem Laster weitergefahren."
Polen war damals zwar EU-Mitglied, war aber erst später dem Schengen-Raum beigetreten. Faktisch verlief an Oder und Neiße bis 2004 die EU-Außengrenze. Eine Hochsicherheitszone, östliches Bollwerk der "Festung Europa". Wie viele Flüchtlinge beim Versuch, Oder und Neiße illegal zu durchschwimmen, ertrunken sind – darüber hat niemand Statistik geführt. Achmed und seine Familie haben erneut die Dienste eines Schleppers in Anspruch genommen.
Achmed: "Wir waren dann auf einem Laster. Der war beladen mit Grillkohle. Oben waren gerade noch 30, 35 Zentimeter Platz. Da lagen wir drauf. Und es war sehr kalt. Und da waren 37 Menschen in diesem Laster. Dann waren wir auf diesem Laster. 25 Stunden. Das war sehr schwer. Und es ist mir auch peinlich, das zu erzählen, aber ich sage es so, wie es war: Wir haben Windeln getragen. Das war ein Fahrzeug aus dem Baltikum oder aus Weißrussland. Da haben irgendwelche Tschetschenen mit dem Fahrer was ausgehandelt. Die Flucht hat 1000 Euro gekostet. Pro Kopf."
Bernd Arlt: "Natürlich, wie hätten wir es sonst machen müssen? Machen können? Und das Risiko, vielleicht über die Grenze zu gehen, anderweitig, und dann beschossen zu werden und dann vielleicht als Krüppel hier anzukommen, da hab' ich alles Verständnis der Welt gehabt, dass die so viel Geld verdient haben. Ja? Später ist es ja auch teurer geworden."
Sie tun doch nichts anderes als Menschenleben zu retten!
Was unterscheidet Achmeds Flucht aus Tschetschenien von Bernd Arlts aus der DDR? Beide flohen aus einem diktatorisch regierten Staat, beide haben für ihre Flucht die Dienstleistungen von Profis in Anspruch genommen. Der eine floh in den freien Westen mit besseren beruflichen Möglichkeiten, der andere, um einem Bürgerkrieg und der Verfolgung durch den russischen Staat zu entgehen.
Migrationsexperte Fabian Georgi: "Es gibt Organisationen wie Pro Asyl oder die Unterstützungsszene der Refugee-Proteste in Deutschland, die wollen ja genau das sagen: Die Leute, die leiden unter einem furchtbaren Bürgerkrieg, es sterben tausendweise Zivilisten, die nichts damit zu tun haben, die Leute, die denen helfen, tun ja nichts anderes, als Menschenleben zu retten. Es gibt diese Interpretation, sie setzt sich aber nicht durch. Sie ist nicht dominant. Sie ist marginalisiert, sie wird auch in den Medien vielleicht mal erwähnt, in den liberalen Blättern. Aber sie ist gesamtgesellschaftlich nicht machtvoll."
Rettung schiffbrüchiger Flüchtlinge vor Lampedusa, hier eine Aufnahme der maltesischen Marine
Rettung schiffbrüchiger Flüchtlinge vor Lampedusa, hier eine Aufnahme der maltesischen Marine© picture alliance / dpa / Malta Navy Press Office
Helmut Dietrich forscht, schreibt und lehrt seit über 20 Jahren zum Themenfeld Migration, hat in Berlin die Forschungsgesellschaft Flucht und Migration mitbegründet und viele Jahre in Nordafrika gelebt.
Helmut Dietrich: "Man wird mit den höchsten Mauern, mit den schärfsten Grenzinstallationen, Abschottungsmaßnahmen, man wird nicht durchsetzen, dass weniger kommen. Sondern man setzt dadurch eine schärfere Illegalisierung durch, eine schärfere Kriminalisierung."
Es ist wie damals bei der Fluchthilfe in den Zeiten der Mauer und des Eisernen Vorhangs: Je abgeschotteter die Grenzen sind, desto professioneller, teurer – und gefährlicher – wird die Schleuserei. Es ist ein Räuber-und-Gendarm-Spiel.
Helmut Dietrich: "Kapitalistisch ist es genau so wie jedes Reiseunternehmen. Man sollte aber differenzieren: Es gibt Flüchtlinge, die gestrandet sind, die kein Geld mehr haben und die erst mal ein Jahr in irgendeinem Transit-Land bleiben, sich inzwischen auskennen mit der Materie, und die ihr Wissen weitergeben an Flüchtlinge – für Geld. Da muss man differenzieren: Die Reise wird durch Fluchthelfer allgemein sicherer. Aber es gibt eben auch, wie bei Reiseunternehmen ebenfalls, diejenigen, die skrupellos gegen die Menschen vorgehen, die ganze Bandbreite ist da. Aber ich möchte noch einmal wiederholen: Empirische Recherchen zeigen, dass Fluchthilfe die Flucht sicherer macht."
Aus der Not ein Geschäft machen
Fluchthelfer handeln nicht per se aus humanitären Gründen. Es gibt die, die viel Geld fordern, brutal agieren, den Menschen ihre Papiere abnehmen und sie in den vereinbarten Zielländern ausbeuten: manchmal um überzogene Gebühren für die Flucht abzuarbeiten, oft jedoch, da sie Notsituationen missbrauchen.
Helmut Dietrich: "Selbstverständlich entsteht ein Markt durch Kriminalisierung. Genauso wie mit Drogen. Genau so wie mit allem, was verboten ist. Je mehr es verboten wird, desto höher steigen die Preise. Aber es gibt ein Kundeninteresse, es gibt einen Verbraucherschutz, wenn man so will, der selbstorganisiert ist, die Leute, die mit Fluchthilfe weiterkommen wollen, organisieren sich und fordern Garantien, dass sie ans Ziel kommen, sie fordern Nachweise, dass diese Reiseunternehmen tatsächlich gut arbeiten, es gibt die gesamte Bandbreite. Und dass die aus der Not ein Geschäft machen, das gibt es auch. Aber man kann es nicht verallgemeinern."
Fabian Georgi: "Es gibt den Begriff der Autonomie der Migration. Der besagt, in einer bestimmten Interpretation: Nein, es wird nie gelingen, die Grenzen komplett zu kontrollieren. Es wird immer Migration geben, die umgeht die Grenzen, die untergräbt sie, die schmuggelt sich irgendwie durch, und die Kontrollversuche tun eigentlich nichts anderes, als die Menschen zu zwingen, andere Wege zu suchen, oft auch gefährlichere Wege. Und die Menschen halt auch zu zwingen, sogenannte Schleuser, die oft auch brutal sind, kriminell, zu nutzen. Ich bin selber nicht so überzeugt von der Argumentation, ich glaube, es ist richtig, dass es nie komplett gelingen wird, zu 100 Prozent die Grenzen abzuschotten, das sagen auch Vertreter von Frontex und der Europäischen Kommission selber, was die erreichen wollen, ist halt, den 100 Prozent so nahe wie möglich zu kommen."
2005 nahm die "Europäische Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union" ihre Arbeit auf. Bekannter ist die Organisation unter ihrer Abkürzung Frontex. Sie betreibt "Grenzmanagement": Ihre Mitarbeiter koordinieren die Überwachung der EU-Außengrenzen, unterstützen bei der Abschiebung von Menschen in Drittstaaten. Kurz: Sie bekämpfen mit einem großen Etat die illegale Einreise in die EU.
Helmut Dietrich: "Mit dem Fall der Mauer ist das Grenzregime, die Idee des Grenzregimes sozusagen, von Ost nach West übergesprungen. Und der Motor der Abschottung lag am Anfang ganz eindeutig beim deutschen Staat, also was wir heute als Grenzregime der Festung Europa haben, stammt von Oder und Neiße. Vom Bundesgrenzschutz. Von der ganz raschen Installation eines neuen Grenzregimes, direkt an Oder und Neiße, mit Schleierfahndung bis ins Hinterland."
Die EU will Ein- und Ausreisende biometrisch erfassen
Das Ende der Hochrüstung an den Außengrenzen Europas ist noch nicht erreicht. Der Friedensnobelpreisträger EU arbeitet bereits – auf Drängen Deutschlands, Großbritanniens und der Niederlande – an einer neuen, riesigen Datensammlung, in der alle Ein- und Ausreisen in die EU biometrisch erfasst werden sollen. Auch darauf werden sich die Fluchthelfer – pardon: Schleuser einstellen.
Fabian Georgi: "Ich glaube generell: Ja, es ist ein Katz-und-Maus-Spiel. Was man immer hört, dass sie sich genau einstellen, dass sie sehr genau Bescheid wissen über die neuesten technischen und juristischen Feinheiten, die bestimmte Wege möglich oder unmöglich machen. Was mittelfristig für die Fluchthelfer noch wichtig werden wird, ist dieses neue biometrische Entry-Exit-System. Das so funktioniert, dass alle Menschen, die mit einem Visum in die EU einreisen, werden biometrisch registriert. Wenn sie dann nicht innerhalb von drei Monaten oder wie lange ihr Visum läuft, wieder ausreisen, wird automatisch Alarm gegeben: Diese Person ist nicht ausgereist. Die hat biometrisch nicht ausgecheckt, ausgestempelt, wie mit 'ner Lochkarte im Job, dann weiß man sofort: Diese Gruppe von Menschen, diese Person, ist illegal in der EU."
Achmed hilft seit seiner erfolgreichen Schleusung auch seinen Landsleuten, nach Deutschland zu kommen.
Achmed: "Jeder Staat hat seine eigenen Gesetze, das ist halt so. Natürlich würde ich mir wünschen, dass die Deutschen das auch verstehen, wieso Menschen hierher kommen. Die Deutschen haben ja auch ihre Geschichte, wo sie fliehen mussten. Ich würde auch lieber in meiner Heimat sein, in meinem eigenen Land leben. Aber ich bin jetzt hier."
Achmed organisiert die Schleusung nach Polen. Dort holt er sie oft auch selbst auf unterschiedlichen Wegen ab. Das ist seit 2004 einfacher. Polen liegt nun innerhalb der Festung Europa, die EU-Außengrenze ist ostwärts gewandert. Geld nimmt Achmed für seine Hilfe übrigens nicht.
Achmed: "Die Leute versuchen ja, das von zu Hause aus schon zu organisieren. Und dann machen sie es gleich telefonisch. Und dann muss ich sie gleich abwürgen. Und sagen: Halt, Moment mal, so geht das jetzt nicht, lass das mal. Was für mich dann auch sehr schwierig ist. Und es ist besser, das dann über Skype oder andere Kanäle zu machen, und dann suche ich Leute in Polen, die ihnen weiterhelfen können. Und wenn sie in Deutschland sind, dann hole ich sie ab oder schicke jemanden. Damit sie dann zur Aufnahmestelle für Asylbewerber kommen können."
Aus Flüchtlingen werden Fluchthelfer
Auch Achmed hat Angst davor, obwohl er und seine Landsleute in Deutschland sind, weil sie verfolgt werden, weil ihnen Gefängnis, Folter oder Tod droht.
Achmed: "Ich hoffe, dass wir irgendwann einmal zurückkehren können in unsere freie Republik. Und ich will mit hoch erhobenem Haupt dann in meine Heimat gehen. Und unter meinen Menschen sein. Es ist eine Verpflichtung eines jeden Menschen, anderen zu helfen."
Auch Bernd Arlt aus Ostberlin hat, nachdem er ausgeschleust wurde, Fluchthilfe betrieben.
Bernd Arlt: "Es sind ungefähr 150 Leute gewesen. Wir haben natürlich keine Fahrten gemacht. Sondern wir haben Organisation gemacht, dass die Adressen stimmen, dass auch die Fluchthelfer vernünftig sind, dass sie ordentlich gekleidet sind und nicht schon vorher auffallen.
Die letzten, die wir geholt haben, gute Freunde, beides Ärzte, Ehepaar, die sind in Jägerkleidung gekommen. Er ist Jäger, sie ist auch immer mit zur Jagd gekommen, sie hatten beide Jägerkleidung. Und sie mussten zu einem bestimmten Zeitpunkt an einer bestimmten Stelle auf dieser Transitstrecke – nicht Autobahn – zwischen Berlin und Hamburg sein, und hatten dann eine helle Latte am Straßenrand quergelegt, und 100 Meter später sind sie dann im Straßengraben hinterm Gebüsch.
Und dann kam ein Auto ganz langsam, und das war die Polizei. Und die sind dann rausgekommen, und die Polizei fuhr ganz langsam, und haben gesehen, dass sie mit Jägerkleidung, Fernrohr und Sitzstock da lang laufen, da haben die nur gegrüßt und sind weitergefahren, und kurze Zeit später kam das Fluchtauto."
Auch Arlt hat, wie Achmed, kein Geld verlangt.
Bernd Arlt: "Nein, wir haben das nicht gemacht. Weil wir Angst hatten, wenn das irgendwann mal rauskommt, dass wir unseren beruflichen Weg hier verbauen würden, und ich fand das auch nicht in Ordnung, dass man den Preis dann noch verteuert. Was wir bekommen haben, waren die Kosten die wir hatten, die haben wir ersetzt bekommen. Aber wir hatten ausgehandelt, indem wir verzichten auf eine Honorarbeteiligung, dass wir, wenn wir jemanden haben, der das nicht bezahlen kann, dass die dann für einen niedrigen Sonderpreis kommen können, so haben wir dann auch welche, die das nicht erwirtschaften konnten, rüber bekommen."

Eine Gruppe von Flüchtlingen auf der Insel Lampedusa
Eine Gruppe von Flüchtlingen auf der Insel Lampedusa© picture alliance / dpa / Franco Lannino
Im Gegensatz zu den Toten an der Berliner Mauer damals erfährt die Öffentlichkeit heutzutage selten etwas über die Toten an den europäischen Außengrenzen. Im letzten Jahr lösten die Flüchtlingstragödien im Meer vor Lampedusa mit Hunderten Toten breite Diskussionen aus. Schätzungen von Nichtregierungsorganisationen gehen von rund 19.000 Toten an den EU-Grenzen zwischen 1988 und 2013 aus. Doch wahrscheinlich ist die Zahl noch viel höher. Bundespräsident Gauck kritisierte nach der Katastrophe vor Lampedusa die Flüchtlingspolitik in der EU: Leben zu schützen und Flüchtlingen Gehör zu gewähren, seien wesentliche Grundlagen unserer Rechts- und Werteordnung, so Gauck.
Bernd Arlt: "Gerade Menschen, die aus Kriegsregionen kommen, wie jetzt in Syrien. Ich selbst hab ne Fahrradtour gemacht, 2007 etwa, oder 2008, weiß nicht mehr genau, von Aleppo ganz durch Syrien durch bis zum Jordantal, am Toten Meer in Jordanien. Und Syrien hat uns so gut gefallen, und es ist für mich ein Grauen, was jetzt dort passiert. Und diese armen Menschen, die keinen Ausweg haben und diese ganzen Kriegswirren mitmachen müssen, wenn die bei uns Asyl suchen, dann sollte denen wirklich geholfen werden."
Nach Deutschland kommt man meist nur illegal
Einen Asylantrag zu stellen, ist mit dem sogenannten "Asylkompromiss" 1993 erheblich erschwert worden. Zudem stehen die Aktionen der Grenzschutzagentur Frontex regelmäßig in der Kritik. Etwa für so genannte Pushback-Operationen: Flüchtlinge werden auf hoher See abgefangen und ohne die Möglichkeit, einen Asylantrag zu stellen, in Drittstaaten zurückgeschickt. Diese Praxis wurde vom Europäischen Gerichtshof 2012 als menschenrechtswidrig verurteilt. Trotzdem soll es mehrere dieser Fälle pro Jahr geben. Wer in Deutschland Asyl beantragen will, muss erst einmal nach Deutschland kommen. Und das geht oft nur illegal.
Achmed: "Wollt ihr einen interessanten Fall hören? Einmal habe ich zwei Schwestern von Warschau nach Stettin gefahren, von dort sollten sie dann mit einem anderen Wagen weiterkommen. Und dort wurde ich dann geschnappt. Und dann hab' ich diesen polnischen Grenzern auch gesagt: 'So, passt auf, für euch ist es ein illegaler Grenzübertritt, für mich ist das aber Hilfe.'
Der Vater von diesen Frauen hatte mir damals auch geholfen, ich hatte mit dem eine längere Geschichte gehabt. Er hat mir damals im Krieg seinen Sohn anvertraut. Der verwundet war und bei mir im Haus gelebt hatte. Und jetzt sind seine beiden Töchter hier, wie soll ich denen sagen, dass ich ihnen nicht weiter helfe? Und dann wollten sie mir trotzdem andrehen, dass ich vorhatte, die Grenze illegal zu überqueren. Ich habe dann gesehen, dass sie solche Unterlagen zusammenstellen, dass ich beim Versuch, die Grenze zu überqueren, festgenommen wurde.
Und dann habe ich gefragt: 'Was passiert denn, wenn ich das nicht unterschreibe?' Dann haben die gesagt: 'Dann wird’s dir schlecht ergehen.' Und dann habe ich das alles vor diesen Beamten zerrissen. Sie brachten mich darauf in eine Zelle, in Einzelhaft, das war ziemlich schrecklich, diese Gefängnisse sind wahrscheinlich vor der Zeit von Zar Peter dem Großen entstanden. Und dann gingen die Verhöre los. Und ich sagte noch einmal: Wenn wir Tschetschenen uns nicht helfen würden, wo kämen wir denn hin? Und ich hab' getobt, ich hab die zusammengeschrien: 'Ihr müsst mich verstehen. Das ist wichtig! Ich muss den Leuten helfen. Wir müssen einander helfen!'
Und dann haben sie mich am dritten Tag freigelassen, genau wie die beiden Schwestern. Ich hab' mich selber sehr gewundert. Und dann hat mich der Ermittler gebeten, dass ich diese beiden Frauen wieder in das Lager bringe. Eine Woche später waren die Frauen trotzdem hier, ich habe sie erst einmal wieder zu sich kommen lassen und sie dann hierher gebracht, über eine andere Route."

Griechische Frontexbeamte überwachen per Video einen Sicherheitszaun an der griechisch-türkischen Grenze in der Nähe der Stadt Evros.
Griechische Frontexbeamte überwachen per Video einen Sicherheitszaun an der griechisch-türkischen Grenze in der Nähe der Stadt Evros.© picture alliance / dpa - Nikos Arvanitidis
Helmut Dietrich: "In meinen Seminaren an den Universitäten frage ich meine Studenten: Seit wann gibt es Zäune an der EU-Außengrenze? Ceuta Mellila? Seit zehn Jahren oder seit 500 Jahren? Antworten die meisten: Seit 500 Jahren. Es gibt kein Bewusstsein mehr davon, dass diese Formierung an der Festung Europa eine sehr neue ist. Und die Frage, wie lange diese Bestand haben wird, ist eine legitime Frage, die, wenn man sich vor Augen hält, dass es enorme soziale Unterschiede sind, die durch die Festung Europa geschaffen werden."
"Sicherheit erreicht man nicht, indem man Zäune errichtet, sondern indem man Tore öffnet". Das sagte einst, in der Zeit des Kalten Krieges, Urho Kekkonen, bemerkenswerte 26 Jahre lang finnischer Staatspräsident, von 1956 bis 1982.