"Mignon" von Ambroise Thomas

Wenn Goethe den Stoff für eine Erfolgsoper liefert

Von Michael Stegemann · 17.11.2016
Goethes Werke waren in Frankreich im 19. Jahrhundert als Opernstoffe höchst beliebt. Nach Hector Berlioz und Charles Gounod folgte 1866 Ambroise Thomas mit "Mignon", nach dem "Wilhelm-Meister"-Roman. Es wurde einer der größten Opernerfolge des Komponisten.
"Kennst du das Land, wo die Zitronen blüh’n? Im dunklen Laub die Goldorangen glüh’n?"
Mignon, die geheimnisvolle Kindfrau aus Johann Wolfgang von Goethes Roman "Wilhelm Meisters Lehrjahre" als Opernfigur – geht das? Darf man das? Und dann noch auf Französisch!?
Der Dreiakter "Mignon" von Ambroise Thomas war bei seiner Uraufführung am 17. November 1866 an der Pariser Opéra-Comique zwar erfolgreich; in Deutschland aber tat man sich lange ebenso schwer mit dem Werk wie mit anderen französischen Goethe-Vertonungen wie Hector Berliozʼ "Damnation de Faust", Charles Gounods "Faust" oder Jules Massenets "Werther".
Dass der "Dichterfürst" ausgerechnet in Frankreich immer wieder zu höchsten Opern-Ehren kam, entsprach dort einer allgemeinen Begeisterung für "romantische" Sujets, galt aber hierzulande fast als Affront. Hatte nicht Goethe selbst im Faust geschrieben:
"Ein echter deutscher Mann mag keinen Franzen leiden."
Und nun standen plötzlich Mignon und Wilhelm auf der Bühne und sangen Französisch! Auch der alte Harfner erscheint – Mignons Vater, der über die Suche nach seinem Kind den Verstand verloren hat.

Mignon als Triumph der Oper

Nach dem Triumph von Gounods "Faust" 1859 wollten die beiden Librettisten Jules Barbier und Michel Carré den Pariser "Goethe-Boom" nutzen und skizzierten – ziemlich frei nach der Roman-Vorlage – ihr Mignon-Szenario, das sie erst Giacomo Meyerbeer, dann Charles Gounod und schließlich Ernest Reyer anboten.
Erst als diese drei abgelehnt hatten, kam der 1811 geborene Ambroise Thomas ins Spiel, der mit "Mignon" seine 17. und erfolgreichste Oper schuf. Die Dreiecksgeschichte zwischen Wilhelm, Mignon und der Schauspielerin Philine lebt zum einen von den romantischen Schauplätzen – ein Wirtshaus im Schwarzwald, Schlösser in Deutschland und Italien – und gibt zum anderen den Protagonisten reichlich Gelegenheit zu lyrischer Emphase.
Dabei steht die melancholische Innigkeit Mignons und des Harfners der überbordenden Lebenslust Wilhelms gegenüber.

Überbordende Lebenslust

Vor allem die charismatische Mezzosopranistin Célestine Galli-Marié – neun Jahre später auch die erste Carmen – sicherte als Mignon den Triumph der Oper, nachdem der Schluss geändert worden war.
Ursprünglich endete Mignon tragisch mit dem Tod der Titelheldin, wie bei Goethe – gegen alle Opéra-Comique-Konventionen. Das Publikum war damit unzufrieden, wie die beiden Librettisten feststellten:
"Als erfahrene Bühnen-Praktiker, die wir waren, mussten wir einsehen, dass uns der Tod Mignons sieben bis bis 800 Aufführungen kosten würde! Also ließen wir die beiden lieber als braves Bürgerpaar heiraten, mit Aussicht auf zahlreiche Nachkommenschaft."
Mit diesem neuen Happy End wurde Mignon zu einer der erfolgreichsten Opern ihrer Zeit, die schon 1894 ihre 1.000. Aufführung allein an der Pariser Opéra-Comique feierte und schließlich auch in Deutschland nachhaltig das musikalische Bild Mignons bestimmte.
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