Midlife-Crisis eines Mathematikers

12.12.2007
Der Erzähler in "Die Riemannsche Vermutung" des Norwegers Atle Naess ist 43 Jahre und lehrt als Mathematiker an einer Universität. Als Wissenschaftler hat er keinen Erfolg, seine Ehe kriselt. Außerdem schreibt er an einem Buch über sein Vorbild Riemann und fährt nach Deutschland, um zu recherchieren. Von dieser Reise wird er nicht zurückkehren.
Die Riemannsche Vermutung gehört zu den großen, ungelösten Rätseln der Mathematik. Es geht dabei um die Primzahlen, also um Zahlen, die sich nur durch 1 und sich selbst teilen lassen: 1, 2, 5, 7, 11... Die Abfolge dieser Zahlen ist auf den ersten Blick völlig willkürlich. Auf 6917 zum Beispiel folgt die nächste Primzahl erst mit 6947. Die übernächste "unteilbare Zahl" liegt allerdings nur einen Zweierschritt entfernt: 6949.

Der deutsche Mathematiker Bernhard Riemann hatte im 19. Jahrhundert behauptet, diese scheinbar ungeordnete Verteilung der Primzahlen berechnen zu können. Seine Behauptungen sind bis heute nicht bewiesen - dabei sind sie im Zeitalter des Internets äußerst brisant. Primzahlen spielen eine wichtige Rolle bei der Verschlüsselung von Daten. Jede Online-Banküberweisung wird ihrer Hilfe kodiert. Ein Beweis der Riemannschen Vermutung würde der Kryptographie darum ungeahnte Möglichkeiten eröffnen.

Aber keine Angst: Man muss sich nicht mit höherer Mathematik beschäftigen, um "Die Riemannsche Vermutung" zu lesen. Der norwegische Schriftsteller Atle Naess interessiert sich mehr für Menschen als für Gleichungen. Sein Erzähler Terje Huuse ist 43 Jahre alt und lehrt als Mathematiker an der Universität Oslo. Als Wissenschaftler hat er keinen Erfolg, in seiner Ehe kriselt es. Um sich von diesen Problemen abzulenken, schreibt er an einer Biografie über sein großes Vorbild Riemann und fährt schließlich sogar nach Deutschland, um dort zu recherchieren.

Von dieser Reise wird Huuse nicht zurückkehren. Bereits zu Beginn des Romans erfährt man, dass er von seiner Familie vermisst gemeldet worden ist. "Die Riemannsche Vermutung" ist darum aus den Eintragungen eines Tagebuchs zusammengesetzt, das auf Huuses Computer gefunden wird. Darin erfährt man zunächst einiges über das reichlich tragische Leben des Mathematikers Bernhard Riemann. Kaum jemand hat zu seinen Lebzeiten die Bedeutung seiner Arbeiten verstanden, und gleichzeitig war er selbst vollkommen untalentiert, was die Vermittlung seiner Erkenntnisse anging: Riemann konnte einfach nichts erklären.

Im Mittelpunkt des Romans steht jedoch die Midlife-Crisis des Erzählers Terje Huuse, der sich nach 20 Jahren Ehe in eine andere Frau verliebt. Atle Naess beschreibt das übertrieben geschmackvolle Bildungsbürger-Interieur der gemeinsamen Wohnung und tastet sich so langsam an "die dünne Wand" aus Respekt und Routine heran, die Huuse und seine Frau trennt. Vorläufiger Höhepunkt der Entfremdung ist das Weihnachtsfest. Er schenkt ihr ein Buch, über das sie sich "pflichtgemäß" freut, sie schenkt ihm einen neuen Jogging-Anzug, weil der alte "schon recht ausgebeult" ist.

Kein Wunder, das Terje Huus sich in eine Affäre mit einer anderen, ebenfalls verheirateten Frau flüchtet. Auch hier zeichnet Naess mit wenigen Strichen ein äußerst realistisches Bild: heimliche Telefongespräche, das schlechte Gewissen, das Teil des Alltags wird, und ungeschickte Berührungen zwischen zwei Menschen, die über eine lange Zeit hinweg ausschließlich Sex mit ihrem Ehepartner hatten.

Mit Zahlentheorie hat das wenig zu tun. Aber die mathematische Präzision, mit der Atle Naess die komplexe Gefühlswelt einer langjährigen Mittelstandsehe beschreibt und in ihre Primfaktoren zerlegt, ist äußerst beeindruckend. "Die Sehnsucht ist eins und damit unteilbar", erkennt Huuse zuletzt und greift zu der einzigen Lösung, die einem Mathematiker noch bleibt, wenn seine Gleichungssysteme nicht aufgehen wollen: "Hebe den Hammer und zerschmettere die Voraussetzungen."

Rezensiert von Kolja Mensing

Atle Naess: "Die Riemannsche Vermutung"
Aus dem Norwegischen von Günther Frauenlob
Piper, München 2007
203 Seiten, 16,90 Euro