Michiko Kakutani: "Der Tod der Wahrheit"

Die Scharfrichterin der Literaturkritik

06:34 Minuten
Cover von Michiko Kakutanis Buch "Der Tod der Wahrheit". Im Hintergrund sieht man ein Foto von US-Präsident Donald Trump, der 2017 eine Rede hält.
In ihrem ersten Buch beschreibt die Literaturkritikerin Kakutan, wie das Internet die Voraussetzung für Donald Trumps Lügen-Tsunami schuf. © Deutschlandradio / Klett-Cotta / dpa / picture alliance / newscom / John Angelillo
Von Pieke Biermann · 11.05.2019
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Mit scharfem Blick seziert Michiko Kakutani literarische Werke, doch jetzt knüpft sie sich Trump und seine Lügenkultur vor. Sie beschreibt, wie sich ein "paranoider Politikstil" durchsetzte und "Wahrheit und Vernunft zu bedrohten Arten" wurden.
Im Sommer 2017 war es soweit: Der personifizierte Schrecken des US-Literaturbetriebs trat ab. Über drei Jahrzehnte hatte Michiko Kakutani den Chefkritikerposten der "New York Times" bekleidet – weniger Literaturpapst als Scharfrichter, pulitzerpreisgekrönt, mit rigoros scharfer Klinge und der Macht über Leben und Tod von – zumindest – literarischen Karrieren. Nur wenige, die mal "kakutanisiert" worden waren, erholten sich davon und wetzten dann selbst die Messer, wie Jonathan Franzen, Philip Roth, Tom Wolfe, Norman Mailer und andere.

Kein weiblicher Reich-Ranicki

Michiko who? Die Idee, Kakutani sei eine Art Marcel Reich-Ranicki der US-amerikanischen Kritik, ist schon deshalb absurd, weil es hierzulande unvorstellbar wäre, dass die Chefstewardess im "Traumschiff" ein Buch über Flirtversuche an Bord verfasst hat und sich in einer Folge über eine Eloge von MRR freuen darf – so wie Carrie Bradshaw in "Sex in the City". Vor allem aber: Michiko Kakutani ist eine Frau. Hierzulande hätte sie einen "Migrationshintergrund" forever, jedenfalls keine Richtlinienkompetenz
Jetzt widmet sie sich also der kulturpolitischen Realität. Ihr erstes eigenes Buch behandelt Donald Trumps Welt und deren Lügenkultur. Sie will zeigen, wie "Wahrheit und Vernunft zu derart bedrohten Arten" wurden, und "das Ökosystem enttarnen, in dem Veritas todkrank werden kann".

Rückgriff auf Kritikarbeit

Die Schadstoffe sind nicht mit Trump in die Welt gekommen. Sein Lügen-Tsunami ist nur die dreiste, feiste Fortsetzung der mutwilligen Umkehrung von Begriffen in ihr Gegenteil und der systematischen Sprachzerstörung, die wir schon aus Huxleys "Schöner neuer Welt" und Orwells "1984" kennen. Ein klassisches Indiz für totalitäre Begierden, ob in Hitlers Deutschland oder Stalins Sowjetunion. Die USA galten dagegen stets als Hort eines vernunftgesteuerten Antitotalitarismus. Seit 2016 nicht mehr, und nicht nur wegen einer technischen Revolution namens Internet.
Andere Emissionen stammen – oft ungewollt – aus kulturellen Umbrüchen seit den 1960er-Jahren. Hier kann Kakutani viel aus ihrer Kritikarbeit recyceln, etwa zu Ichjahrzehnt und Narzissmusära, Postmoderne und Dekonstruktionismus, zu Antiaufklärung und dem "episodisch wiederkehrenden Hang zum paranoiden Politikstil" gepaart mit Superlativismus und Übertreibung. Am "Rashomon-Effekt", nach dem es keine Objektivität, also kein verbindendes Narrativ mehr gibt, sondern alles subjektiv und letztlich fiktiv ist, hat sie sich immer wieder so erbittert abgearbeitet wie an "Reality-Fiction" à la Oliver Stone, Fernsehen und Entertainmentwahn.

Noch nicht ganz "zu Tode amüsiert"

Kakutanis Buch wimmelt von Namen, auch nichtamerikanischen. Aber natürlich ist ihre immense Belesenheit und Verknüpfungskunst US-zentriert – sie umfasst nur, was auf Englisch geschrieben oder übersetzt und in den USA diskutiert wurde. Was nicht das Unbedeutendste ist: Hannah Arendt, Neil Postman, Victor Klemperer, um nur ein paar zu nennen, kann man immer wieder lesen, gerade heute und hier im alten Europa, wo man kaum so arglos wie Michiko Kakutani darüber staunen muss, wie früh und wie präzis manche Leute "vorhergesehen" haben, was die Trump-World von heute ausmacht.
Auf dem Kontinent zweier verheerender Weltkriege und zweier mörderischer Totalitarismen musste man sich spätestens seit 1945 auch mit einem beschämenden Versagen beschäftigen: Auf die Warnungen nicht gehört zu haben, bevor es zu spät war. Aber vielleicht haben wir uns genau deshalb im alten Europa noch nicht ganz "zu Tode amüsiert". Dann ist es umso wichtiger, die kritischen Stimmen der "Neuen Welt" zu hören, die gerade hochgradig gefährdet ist.

Michiko Kakutani: "Der Tod der Wahrheit: Gedanken zur Kultur der Lüge"
aus dem Englischen von Sebastian Vogel
Klett-Cotta, Stuttgart 2019
200 Seiten, 20 Euro

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