Michel Serres: "Musik"

Gott ist Komponist

Lichteffekte in bunten Farben
Gott ordnete das Urmeer, indem er das Chaos rhythmisierte, meint Michel Serres. © picture-alliance/ dpa / Felix Hörhager
Von Florian Werner · 02.03.2016
Die Musik steht am Anfang der Schöpfung, ist der französische Philosoph Michel Serres überzeugt. Ihr Rhythmus findet sich in unserem Körper. Selbst Philosophie ist Singen. Sein Buch "Musik" arbeitet mit musikalischen Stilmitteln.
Konrad Böhmer, "Logos Protos":
"Es war im Anfang, noch vor aller Zeit
Die Erde war wüst und leer ... "
Ursprünglich herrschte im Universum - so erzählt es die Bibel, aber auch dieses Stück von Konrad Böhmer - das Chaos. Doch wie kam Ordnung in das Tohuwabohu? Die Antwort, die der Philosoph Michel Serres in seinem neuen Buch "Musik" gibt, lautet: Indem Gott das brausende Urmeer zu Wellenformen ordnete, indem er das Chaos rhythmisierte. Oder anders gesagt: Indem er das erste Musikstück erschuf. Gott, so Michel Serres, ist ein Komponist.
Da die Musik am Anfang der Schöpfung steht, ist sie auch in allen Dingen, Prozessen, Lebewesen präsent: "Herz, Puls, Atmung, Schlaf, Verdauung, Menstruation, Kindheit, Jugend, Alter - das körperliche Leben flicht ununterbrochen Rhythmen", schreibt der Philosoph. "Wenn das Spermium sich mit der Eizelle vereint, löst ihre Begegnung eine Kalziumoszillation aus, und der Rhythmus der davon ausgehenden Welle bestimmt die Zellteilung."

Modulationen des Begehrens

Der Mensch, so Serres, sei ein "Homo musicus". Schon der erste Schrei des Neugeborenen sei ein Klagegesang - ein Versuch, musikalische Ordnung in das Rauschen der Welt zu bringen. Da die Musik allen anderen Kommunikationsformen vorangeht, berührt sie uns so unmittelbar: "Unsere klagenden Modulationen des Begehrens oder der Trauer", schreibt der Philosoph, "erreichen die tiefen Neuronen unseres Reptiliengehirns, die wir mit Finken, Meisen und Kolibris teilen".
Und nicht nur das: Die Musik stellt für Serres auch die Grundlage der Mathematik und aller anderen Wissenschaften dar. Auch seine eigene Disziplin, die Philosophie, begreift er nur als "Substitut für die musikalische Komposition". Die besondere Stärke der Musik liegt für ihn darin, dass sie "pansemisch" sei: dass sie also, anders als das Wort, alle möglichen Bedeutungen in sich trägt, ohne sich festlegen zu müssen.

Faible für HipHop-Kultur

So legt der 85-Jährige denn auch ein überraschendes Faible für die HipHop-Kultur an den Tag: "Auch dort zieht der musikalische Strom entlang wie ein Sturzbach vom Rauschen zur Sprache", schreibt er, "der an den Quellen des Unglücks entsteht und in Katarakten zur revoltierenden Befreiung hinschießt wie ein schwarzes Magnifikat."
Saul Williams, "La la la"
Nigga, you better drink half a gallon of shaolin
Before you pluck the strings of my violin
My life is orchestrated, like London symphony, concentrated
Niggas waited and waited, I'm birthday wishes, belated ...
Ganz so rhythmisch wie etwa der Vortrag des Rappers Saul Williams ist sein Text nicht - doch setzt auch der Philosoph auf musikalische Stilmittel: Refrains, wiederkehrende Riffs, Alliterationen wie "die subtile Chromatik der Chromosomen". Man merkt: Michel Serres begreift sein Philosophieren als Singen. Bisweilen droht dieser Gesang in seiner pansemischen Offenheit und seinem jubilatorischen Überschwang allerdings auch in die Unverständlichkeit zu kippen. "Als bedrohtes, menschliches Werk", so der Autor, "kann die fragile Musik immer in das Durcheinander des zerstreuten Chaos zurückfallen."

Michel Serres: "Musik"
Aus dem Französischen von Elisa Barth und Alexandre Plank
Merve Verlag, 168 Seiten, 16,00 Euro

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