Michel Houellebecqs "Unterwerfung"

Abgesang auf das abendländische Europa

Der französische Autor Michel Houellebecq im November 2014 in einem Pariser Restaurant, eine Zigarette in der Hand.
Der französische Autor Michel Houellebecq im November 2014 in einem Pariser Restaurant © Lionel Bonaventure / AFP
Von Wolfgang Schneider · 16.01.2015
In seinem vorab viel diskutieren Roman "Unterwerfung" zeichnet Michel Houellebecq das Bild eines friedvollen, wirtschaftlich starken Frankreichs unter einem muslimischen Präsidenten. Dabei ist nicht immer klar, was Satire ist und was Utopie.
Vor einigen Jahren hat sich Michel Houellebecq verächtlich über den Islam als "dümmste" aller Religionen geäußert. In "Unterwerfung" wird man kein schlechtes Wort über den Islam finden. Eine List der Houellebecqschen Vernunft? Der Islam als Utopie für ein zermürbtes, bis zum bitteren Ende aufgeklärtes Europa? Kulturen gehen nicht mit Getöse unter, sie zerfallen wie modrige Pilze.
Frankreich als Zugpferd eines islamischen Europas
Um Marine Le Pen zu verhindern, gehen die Sozialisten 2022 eine Koalition mit den Muslimbrüdern ein, die sich unter dem neuen charismatischen Präsidenten Mohammed Ben Abbes sogleich daranmachen, den Staat und die Erziehungsinstitutionen umzugestalten. Ben Abbes ist ein milder, durchsetzungsfähiger Mann, ein gemäßigter Moslem, der Terroristen und Taliban als "Dilettanten" verachtet.
Nach einer kurzen Phase der Unruhe und Gewalt kehrt der Frieden eines moderaten islamischen Gottesstaates ein, der sogar der französischen Sprache wieder größere Geltung verschafft, indem er zum Zugpferd eines islamischen Europas wird, das in naher Zukunft auch die Türkei und Nordafrika einschließt – "Eurabien" als glanzvolle Neuauflage des römischen Reichs. Die Wirtschaft floriert, die Familien gedeihen, das Handwerk blüht, nur die Kriminalität schwindet. Und ebenso die Vorbehalte gegen Ben Abbes.
Reizvolle Mischung aus Satire und Utopie
Eine Welle der "Kollaboration" setzt ein. Auch der archetypische Houellebecq-Held des Romans, der Literaturwissenschaftler und Huysmans-Spezialist Francois, lässt sich schließlich von den Vorteilen des neuen Systems überzeugen: eine hochdotierte Lehrstelle an der islamischen Universität Sorbonne und gleich mehrere unterwürfige Ehefrauen. Der Roman changiert reizvoll zwischen Satire und Utopie, wobei sich oft schwer unterscheiden lässt, ob ein beschriebener Sachverhalt nun eine satirische Spitze sein oder eine Wunschbild darstellen soll.
Die Polemik trifft in erster Linie den liberalen Westen, wo nur noch die Krankenversicherung und das Finanzamt dem Leben eines Menschen Struktur gäben. Durch den Kakao gezogen werden die Linksliberalen, die den Konflikt zwischen den "Ureinwohnern" Europas und den muslimischen Einwanderern systematisch heruntergespielt hätten. Sie seien "von der gleichen Blindheit befallen wie die Trojaner". So habe sich seit Jahren ein "bodenloser Graben" aufgetan "zwischen dem Volk und jenen, die in seinem Namen sprachen, also Politikern und Journalisten".
Kurz: Das abendländische Europa sei von "abscheuerregender Verwesung" gekennzeichnet. Das alles sind, romantechnisch gesehen, keine Originalmeinungen Houellebecqs, sondern Figurenreden, Ausführungen, an deren Ende Francois ausruft: "Das klingt logisch…"
Auf- und anregende Lektüre
Dieser Roman beschäftigt sich nicht ausgiebig nur mit Huysmans, er beschreibt auch eine Huysmans-Nachfolge in der Dialektik von Décadence und Bekehrung. Wobei in der Art der Bekehrung die Décadence erst auf den Gipfel kommt: Islam deshalb, weil er ein bequemes Leben verspricht. Die Glaubensinhalte selbst sind ganz unwesentlich.
Die Listigkeit dieses Romans, seine Doppelbödigkeit als polemische Zukunftsphantasie und literaturgeschichtlich inspirierte Huysmans-Kontrafaktur, seine unerwarteten Volten, schließlich die ihm jäh zugewachsene politische Brisanz, über der man seinen Witz nun erst recht nicht vergessen darf: all das macht "Unterwerfung" zu einer ebenso auf- wie anregenden Lektüre.

Michel Houellebecq: Unterwerfung. Roman
Aus dem Französischen von Norma Cassau und Bernd Wilczek
Dumont Verlag, Köln 2015
300 Seiten, 22,99 Euro

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