Michel Foucault: "Überwachen und Strafen"

Wie die Macht das Individuum drangsaliert

Michel Foucault
Undatiertes Porträt des französischen Philosophen und Schriftstellers Michel Foucault. © picture alliance / dpa / Foto: afp
Von Arno Orzessek · 12.10.2017
Es ist eines der wichtigsten Werke des französischen Philosophen Michel Foucault: "Überwachen und Strafen". Vor mehr als vierzig Jahren erschienen, prägt es Autoren und Autorinnen bis heute. Foucault sah Disziplin als wesentliche Technologie der Macht.
"Der Scharfrichter reißt dem Verurteilten mit der Zange Fleischstücke aus dem Körper; er gießt siedende Flüssigkeit in die offenen Wunden. (...)"
So sah es aus, das Ende des Vatermörders Damiens im Jahr 1757. Augenzeugenberichte der Marter stehen am Anfang von "Überwachen und Strafen". Die öffentliche Hinrichtung sollte laut Michel Foucault die Macht des Souveräns demonstrieren und eine "Terrorwirkung" auf die Zuschauer ausüben – aber nicht willkürlich.
"Die Marter setzt die Art der Körperbeschädigung, die Qualität, die Intensität, die Länge der Schmerzen mit der Schwere des Verbrechens, der Persönlichkeit des Verbrechers, dem Rang seiner Opfer in Beziehung. Es gibt einen juristischen Code des Leidens."
Ein Dreivierteljahrhundert später jedoch gibt es bereits Ablaufpläne für "das Haus der jungen Gefangenen von Paris", in denen selbst das Händewaschen minutiös getaktet ist. Zeitplanung hat die Leibesmarter ersetzt.

Von der Aufklärung geprägte Maßstäbe fürs Strafen

Was war passiert? Foucault beleuchtet, wie die Praxis der Marter im 18. Jahrhundert auf immer lautere Kritik stößt. Vor allem durch Justizbeamte, die befürchten, das Volk könnte, angestachelt vom blutigen Strafvollzug, seinerseits auf den Geschmack von Blut kommen und revoltieren.
Es entsteht eine Reform-Bewegung. Von der Aufklärung geprägt, nimmt sie den Menschen selbst zum Maßstab dessen, wie der Souverän Missetäter strafen soll – und wie nicht.
"Die Reform des Kriminalrechts ist als eine Strategie zur Stärkung der Strafgewalt aufzufassen und soll diese geregelter, wirksamer, beständiger und präziser machen; sie soll ihre Wirksamkeit erhöhen und ihre ökonomischen Kosten ebenso senken (...) wie ihre politischen Kosten."
Obwohl von den Reformern zunächst nicht beabsichtigt, etablierte sich die Haft als praktikabelste Strafe; das Gefängnis wird zum zentralen Ort des Strafvollzugs.
Und Foucault ist bei seinem Hauptthema: wie Macht-Technologien das Individuum unterwerfen.
"Die Zielscheibe der Strafe (...) ist der Körper, die Zeit, die alltäglichen Gesten und Tätigkeiten. Auch die Seele ist die Zielscheibe, aber nur in dem Maße, in welchem sie der Sitz der Gewohnheiten ist. Als Ursprung des Verhaltens bilden Körper und Seele nun das Objekt der Strafe. Diese beruht […] auf einer überlegenen Manipulation des Individuums."

Foucault analysiert die "Formierung der Diziplinargesellschaft"

Das längste Kapitel von Überwachen und Strafen behandelt die "Disziplin" als wesentliche Technologie der Macht. Am Beispiel des militärischen Drills zeigt Foucault, wie der Körper kontrolliert und dressiert, wie schließlich der ganze Mensch als effiziente Maschine optimiert wird.
"So formiert sich eine Politik der Zwänge, die am Körper arbeiten, seine Elemente, seine Gesten, seine Verhaltensweisen kalkulieren und manipulieren. Der menschliche Körper geht in eine Machtmaschinerie ein, die ihn durchdringt, zergliedert und wieder zusammensetzt. […] Die Disziplin fabriziert auf diese Weise unterworfene und geübte Körper, fügsame und gelehrige Körper."
"Die Disziplin fabriziert..." – eine typische Foucault-Formulierung. Ein theoretischer Begriff wird zum Subjekt bedeutender Handlungen und regiert als solches die Menschen und ihre Geschichte. Tatsächlich neigt Foucault dazu, die Realgeschichte brüsk in das Korsett seines brillanten abstrakten Denkens zu zwängen.
Und das hat Konsequenzen. In seinem flächendeckend dunklen Abriss des 19. Jahrhunderts sind Kontrolle und Normierung die alles entscheidenden Faktoren. Ob in Waisenhäusern, Lagern, Kliniken oder Schulen – überall steht laut Foucault die "Formierung der Disziplinargesellschaft" im Vordergrund.
Die perfekte Illustration dafür findet er im "Panopticon". Ein Gefängnis, in dem zentrale Aufseher jederzeit alle Insassen kontrollieren können.
"Diese Anlage ist deswegen so bedeutend, weil sie die Macht automatisiert und entindividualisiert. Das Prinzip der Macht liegt weniger in einer Person als vielmehr in einer konzentrierten Anordnung von Körpern, Oberflächen, Lichtern und Blicken; in einer Apparatur, deren innere Mechanismen das Verhältnis herstellen, in welchem die Individuen gefangen sind."

"In Wirklichkeit ist die Macht produktiv"

Gefangenschaft ist unerfreulich. Irritierenderweise jedoch versucht Foucault an einer Stelle, die disziplinierenden Technologien der Macht in ein günstigeres Licht zu rücken.
"In Wirklichkeit ist die Macht produktiv; und sie produziert Wirkliches. Sie produziert Gegenstandsbereiche und Wahrheitsrituale: das Individuum und seine Erkenntnis sind Ergebnisse dieser Produktion."
Am Ende allerdings, nach der Untersuchung der im 19. Jahrhundert voll entwickelten Gefängnisse und der ausdifferenzierten Gesetzgebung, unterstreicht Foucault seine Generalthese. Für ihn bestimmt die Gefängnisordnung das gesamte moderne Dasein – eine Behauptung, die er in die herbe Metapher vom "Kerkergewebe der Gesellschaft" kleidet.
Die Humanität selbst ist für Foucault nichts anderes als ein "Effekt und Instrument komplexer Machtbeziehungen", die unsere Körper allen erdenklichen "'Einkerkerungs'-Anlagen" unterwirft.
Von Befriedung der menschlichen Verhältnisse kann da natürlich keine Rede sein. Foucault beschließt sein gedankenvolles, einflussreiches, aber auch umstrittenes Buch mit einem Unheilsbild. Er konstatiert:
"In dieser Humanität ist das Donnerrollen der Schlacht nicht zu überhören."
Mehr zum Thema