Michael Tomasello: "Eine Naturgeschichte der menschlichen Moral"

Wie unsere sozialen Regeln entstanden

Blumen und Trauerbekundungen anlässlich der Schießerei in Orlando vor der Bar "The Stonewall Inn" in New York
Wie sich so etwas wie eine gesellschaftliche Moral entwickelte, erläutert Michael Tomasello © imago stock&people
Von Volkart Wildermuth  · 29.09.2016
Wie es dazu kommen konnte, dass Menschen eine gemeinsame Moral entwickelt haben, legt Michael Tomasello detailliert in seiner "Naturgeschichte der menschlichen Moral" dar. Der US-amerikanische Anthropologe weist nach, dass Gruppenregeln evolutionäre Vorteile hatten.
Diesen Text können Sie nur lesen, weil hunderte von Menschen zusammengearbeitet haben. Der Autor, die Redakteurin, Sekretärinnen, Programmiererinnen - die Liste ist endlos. Denn Menschen leben in einer Welt der Superkooperation.
Viele Biologen sehen die Wurzeln zur Kooperation schon im Tierreich: Schimpansen etwa jagen gemeinsam. Der Verhaltensforscher Michael Tomasello aber widerspricht dem energisch. Bei Tieren sei das keine echte Kooperation, bei den Schimpansen sei jeder in der Gruppe letztlich nur auf den eigenen Vorteil aus. Menschen hingegen würden ständig kooperieren – auch mit Wildfremden.
Wie das möglich ist, legt Tomasello detailliert in seiner "Naturgeschichte der menschlichen Moral" dar. Vor zwei Millionen Jahren wurde das Klima in Afrika trockener und kühler, und die Nahrungssuche damit schwieriger. Die einzige Chance für die Frühmenschen bestand darin, zusammen auf gemeinsames Ziel hinzuarbeiten. Nicht als "ich" und "du", sondern als übergeordnetes Wir. Der andere wurde überlebenswichtig und das heißt nicht nur, dass man mit ihm fühlt, sondern dass man ihn auch als gleichwertig empfindet.
Eine These, die der Autor mit zahlreichen Experimenten belegt, in denen Kleinkinder anderen helfen und viel Wert auf Fairness legen. "Zweitpersonale Moral" nennt er das.

Verfestigung kultureller Normen

Mit der Entwicklung des Homo Sapiens fand der nächste Schritt zur "Objektiven Moral" statt, so Tomasello weiter: Der lebte in größeren Gruppen, die noch dazu in gegenseitiger Konkurrenz standen. Letztlich breiteten sich die Gruppen aus, die den Wirkungskreis der Moral ausdehnten, also von den direkten Kooperationspartnern für eine Unternehmung auf alle Mitglieder. Soziale Regeln wurden nicht mehr ständig neu ausgehandelt, sondern verfestigten sich zu kulturellen Normen.
Auch das belegen Studien: Kleinkinder leben noch ganz in der Welt der Zweitpersonalen Moral, in die kulturelle Moral einer Gruppe integrieren sie sich erst ab dem dritten Lebensjahr.
Das Moralgefühl wirkt aber nur innerhalb der eigenen Gruppe, schreibt Tomasello, denn die anderen folgen fremden Regeln, gehören deshalb nicht dazu. Außerdem geraten in komplexen Gesellschaften unterschiedliche moralische Anforderungen in Konflikt. Hier muss jeder selbst seinen Weg suchen, und das gelingt, eben weil die Zweitpersonale Moral so tief im Menschen verankert sei.

Moral ist gut für die Spezies

Tatsächlich hat Michael Tomasello ein wichtiges Buch geschrieben, auch hat niemand zuvor so detailliert den biologischen Weg der Moral nachgezeichnet. Leider ist der Text hochverdichtet. Obwohl der Verhaltensforscher selbst an vielen der entscheidenden Studien beteiligt war, referiert er nur deren Ergebnisse, anstatt wirklich zu erzählen.
Wer diese Schreibweise in Kauf nimmt, dem vermittelt das Buch viele interessante Einsichten wie die Erkenntnis: Wir sollten "einfach staunen und die Tatsache feiern, dass die Moral irgendwie gut für unsere Spezies, unsere Kultur und uns selbst zu sein scheint – zumindest bis jetzt".

Michael Tomasello: "Eine Naturgeschichte der Menschlichen Moral"
übersetzt von Jürgen Schröder
Suhrkamp Verlag Berlin, 2016
282 Seiten, 32,- Euro

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