Michael Rutschky: "In eine neue Zeit"

Mauerfall und der Klatsch der Mutter

Buchcover "In die neue Zeit" von Michael Rutschky vor der Silvesterfeier 1989 am Brandenburger Tor
Buchcover "In die neue Zeit" von Michael Rutschky vor der Silvesterfeier 1989 am Brandenburger Tor © Berenberg Verlag / dpa / Wolfgang Kumm
Von Gerrit Bartels · 05.12.2017
"In eine neue Zeit" beinhaltet Aufzeichnungen des Berliner Schriftstellers und Alltagsethnologen Michael Rutschky aus der Wendezeit. Er stellt die großen Zeitläufte neben Alltäglichkeiten und Abseitiges und gewährt tiefe Einblicke in die linke Szene West-Berlins.
Am 9. November 1989 gehen Michael Rutschky und seine Frau Katharina ins Kino, nachdem sie den gleichermaßen irritierenden wie eindeutigen Auftritt von Günter Schabowski gesehen haben: "Die Grenzen sind offen." Als sie in ihre Wohnung in der Kreuzberger Wartenburgstraße zurückkommen, machen sie den Fernseher wieder an und verfolgen, was sich an der Mauer für Szenen abspielen. Doch die Rutschkys sind zu müde, um selbst auch hinzugehen. "Dabei läuft heute Nacht die Party des Jahrhunderts, wie R. wohl ahnt. Aber sie gehen ja nicht mehr auf Partys".
Diese Lakonie ist typisch für den Berliner Schriftsteller, Essayisten und Alltagsethnologen Michael Rutschky, nicht zuletzt auch für den entspannt-skeptischen Umgang bestimmter West-Berliner Szenen mit diesem Jahrhundertereignis. Und diese Lakonie durchzieht so manchen Satz in "In die neue Zeit", dem nach "Mitgeschrieben. Die Sensationen des Gewöhnlichen" zweiten Band mit Aufzeichnungen und Tagebucheinträgen von Michael Rutschky. Ging es im ersten Band um die frühen 80er-Jahre, um seine Zeit in München, stammen die Einträge nun aus den Jahren 1988 bis 1992, als Rutschky in West-Berlin wohnt und aus einer eben sehr bewegten, so neuen Zeit.
Nur wird der 1943 im hessischen Spangenberg geborene freischaffende Geistesarbeiter genauso von vielen anderen Dingen und Ereignissen bewegt: den Anrufen seiner Mutter, die ihm ihr Leid klagt und Klatsch aus Spangenberg weiterträgt; oder denen seines Kollegen Kurt Scheel, der ihm von seinem moribunden Vater und dessen Pflege erzählt; von vielen Begegnungen, die Michael Rutschky oder seine Frau mit Leuten aus ihrem Freundes- und Bekanntenkreis haben, häufig geht es dabei um Krankheiten, den Erwerb eines neuen Autos oder die Freuden mit dem Hund, Kupfer mit Namen.

Schwimmen wegen "Allmachtsgefühlen"

Rutschky versteht sich auf das Kleine, Alltägliche, Abseitige, beobachtet sich und andere, sehr gern auch beim Essen, und manchmal gelingt es ihm, aus dem Kleinen und Alltäglichen etwas Größeres, Besonderes zu machen. Sei es, dass er im Schwimmbad entdeckt, dass ein anderer Badegast hier nur wegen der "Allmachtsgefühle" regelmäßig seine Bahnen zieht, sei es, dass Bars vor allem der "Selbstverwirklichung" ihrer Betreiber dienen. "In die neue Zeit" konzentriert sich naturgemäß auf die Lebenswelt der Rutschkys, und doch blickt der Band immer wieder tief in eine bestimmte intellektuelle Szene der West-Berliner Vor- und Wendezeit, in die von Linken, Alternativen, Berliner Ökonomisten. Da tauchen Figuren wie Thomas Kapielski, Helmut Höge, Sabine Vogel, Harry Nutt, Jörg Lau oder eben die "Merkur"-Herausgeber Kurt Scheel und Karl-Heinz Bohrer auf.
Nebenbei spielen die Zeitläufte eine Rolle, die Rede ist von den Putsch-Geschehnissen in der untergehenden UdSSR genauso wie von dem beginnenden Kriegen auf dem Balkan. Vor allem aber ist Rutschky nach dem Mauerfall häufig im Osten Berlins unterwegs, genauso in den sogenannten fünf neuen Bundesländern, Verwandte in Aue besuchen, nicht zuletzt auf den Spuren seiner Eltern zu der Zeit, als er geboren wurde.

Der verlorene beruhigende Schatten der Mauer

Einmal entfährt es R., wie egal es ihm sei, wer aus der Prenzlauer-Berg-Literaturszene für die Stasi gespitzelt habe, wie unterwandert diese Szene gewesen sei, von wegen der Fall Sascha Anderson, und klar ist den Rutschkys auch, dass sie Silvester 1990 nicht am Brandenburger Tor feiern. Einheitsbetrunken sind sie nicht. Doch kalt lässt Rutschky die Einheit keineswegs. Er diagnostiziert "den Ausdruck des komplett Harmlosen, Ungefährlichen, Alltäglichen" der Bornholmer Straße, überhaupt von ganz Ost-Berlin (gerade nach den einstigen Erfahrungen als westlicher DDR-Besucher); oder er erinnert sich, wie für ihn Besuche beispielsweise in Cottbus undenkbar waren, die Stadt sei für ihn, wie die gesamte DDR, eigentlich "in der Geschichte verschwunden" gewesen.
Die Aufzeichnungen enden mit einer typischen Rutschky-Beobachtung in einem Supermarkt, in dem gerade ein Schnapsflaschendieb gefasst wurde - es ist eine Szene, die mit der Historie nichts zu tun hat, da kann in der Welt passieren, was will, sie wird sich immer und überall wiederholen. Und doch weiß man nach der Lektüre dieses Bandes, dass die Zeiten andere geworden sind, auch für die Rutschkys, dass der Schutz der wohlgeordneten Bundesrepublik, der irgendwie auch beruhigende Schatten der Mauer verloren sind.
Michael Rutschky: "In die neue Zeit. Aufzeichnungen 1988- 1992"
Berenberg Verlag, Berlin 2017
286 Seiten, 20 Euro
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