Michael Kimmel: "Angry White Men"

Porträt der weißen Wutbürger

Anhänger der Tea-Party-Bewegung in Washington, DC
Viele "Angry White Men" sind Anhänger der konservativen Tea-Party-Bewegung © picture alliance / dpa / Foto: Michael Reynolds
Besprochen von Martin Steinhage · 16.01.2016
Der US-Soziologe Michael Kimmel hat sich einer Spezies angenommen, die sich offenbar auf dem absteigenden Ast befindet: des weißen amerikanischen Mannes. Sein ökonomischer Niedergang und Bedeutungsverlust schüren in ihm die Wut.
Sie sind weiß und sie sind fast immer männlich, sie gehören der Unterschicht, oft aber auch der Mittelschicht an – und sie fühlen sich als Verlierer.
Denn sie wissen, dass der American Dream für sie nicht in Erfüllung gehen wird: Die "Angry White Men" haben Angst um ihren Job, wenn sie denn überhaupt noch einen haben. Ihnen geht es schlechter als ihren Eltern und sie ahnen, dass es ihren Kindern dereinst nicht besser gehen wird als ihnen heute.
Die Schuldigen sind ausgemacht: Frauen, Linke, Schwarze, Ausländer und Homosexuelle
Das Amerika des weißen angelsächsischen Mannes sieht sich auf dem Rückzug. Und für Michael Kimmel steht fest, dass die frustrierten weißen Amerikaner ihre ökonomische und soziale Misere als persönliche Niederlage empfinden. Das macht sie zornig – und ihre Wut richtet sich gegen jene, die vermeintlich die Schuld an ihrer Not tragen: Frauen, Linke, Schwarze, Ausländer und Homosexuelle.
Viele "Angry White Men" sind Anhänger der Tea-Party-Bewegung oder stehen noch weiter rechts. Die Wutbürger pflegen einen übersteigerten Patriotismus und verdrängen auf diese Weise, wie enttäuscht sie von ihrem Land sind, das für sie nicht mehr bereithält, was ihnen nach ihrem Selbstverständnis zusteht.
Cover - Michael Kimmel: "Angry White Men. Die USA und ihre zornigen Männer"
Cover - Michael Kimmel: "Angry White Men. Die USA und ihre zornigen Männer"© Orell Füssli Verlag
In mehrfacher Hinsicht gedemütigt
Und so lautet Kimmels Kernthese: Die zornigen weißen Männer leben noch immer in der Vorstellung, dass sie qua Geschlecht und Rasse Anspruch auf Privilegien haben. Da diese ihnen vorenthalten bleiben, geht ihr anerzogenes Selbstwertgefühl unwiederbringlich verloren.
Das überholte Bild von Männlichkeit und weißer Dominanz entpuppt sich als unhaltbar, die "Angry White Men" fühlen sich daher in mehrfacher Hinsicht gedemütigt und buchstäblich entmännlicht. Die Angst vor dem eigenen Bedeutungsverlust aber macht Millionen weißer amerikanischer Männer zu Radikalen, ihre individuelle Identitätskrise wächst sich zur Krise des ganzen Landes aus.
Michael Kimmel zeichnet ein umfängliches Porträt der zornigen weißen Männer. Freilich überzeichnet er bisweilen bei dem Versuch, unterschiedlichste Phänomene, wie etwa Amokläufe an Schulen oder häusliche Gewalt, als Belege für seine Thesen zu bemühen. Da wird dann deutlich, dass sich der Hochschullehrer vor allem als Männer- bzw. Geschlechterforscher versteht und weniger als Politologe.
Gleichwohl lohnt sich die Lektüre des Buches, weil es einem bereits vielfach diskutierten Thema neue Aspekte abgewinnt – und dies im Ton teils scharfzüngig, teils provokant, manchmal auch amüsant.

Michael Kimmel: Angry White Men. Die USA und ihre zornigen Männer
Orell Füssli Verlag, Zürich 2015
320 Seiten, 19,95 Euro

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