Micha Brumlik: Abschiebung ist verantwortungslos

Micha Brumlik im Gespräch mit Joachim Scholl · 18.08.2008
Der Erziehungswissenschaftler Micha Brumlik hat sich gegen Forderungen gewandt, jugendliche Gewalttäter mit Migrationshintergrund einfach abzuschieben. Die meisten der Jugendlichen seien hier "unter miserablen Schulbedingungen sozialisiert worden". Deshalb läge es auch in der Verantwortung der Deutschen, sich um die jungen Leute zu kümmern. Man müsse die Kultur der Gewalt unter Migranten an ihren Wurzeln packen.
Joachim Scholl: "Bei minus 55 Grad Holz hacken - Hessen schickt 16-jährigen Schläger nach Sibirien". Das war eine Titelschlagzeile der "Bild-Zeitung" im Januar 2008, fehlte nur noch der Zusatz: "So ist's recht". Aber das war eindeutig die Tendenz. Nach dem brutalen Überfall von zwei Jugendlichen auf einen Rentner in der Münchener U-Bahn ging es in der Öffentlichkeit hoch her. Und auch die Politik nutzte das emotionale Thema. Der hessische Ministerpräsident Roland Koch etwa für seinen Wahlkampf:

Roland Koch: "Ja, von den Delikten mit Gewalt sind die Hälfte aller Straftäter unter 21 Jahren. Schon das muss uns zu denken geben. Die Hälfte davon, dieser Straftäter, haben einen Migrationshintergrund. Das muss uns noch mehr zu denken geben. Deshalb gilt auch bei den ausländischen Mitbürgern irgendwo der Punkt, wo wir sagen, die müssen nicht alle hier bleiben."

Scholl: Hessens Ministerpräsident Roland Koch im Frühjahr 2008. Im Studio ist jetzt der Erziehungswissenschaftler Micha Brumlik. Schönen guten Morgen!

Micha Brumlik: Guten Morgen!

Scholl: Diese Worte und ähnliche haben Sie ja in den vergangenen Monaten ordentlich auf die Palme gebracht, Herr Brumlik?

Brumlik: Weil das ein Ausdruck organisierter Verantwortungslosigkeit ist. Es ist ein blanker Zufall des deutschen Staatsangehörigkeitsrechts, dass man so reden kann, als seien diese gewalttätigen jungen Leute nicht unsere Jugend, sondern irgendwelche kurzfristig Zugereisten, die man sofort wieder abschieben kann.

Das Gegenteil ist der Fall: Der überwiegende Anteil genau dieser Gruppe ist in Deutschland geboren und unter miserablen Schulbedingungen sozialisiert worden und daher mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit straffällig geworden. Das heißt, es ist unsere, der Deutschen Verantwortung, uns um diese jungen Leute zu kümmern. Der Weg, sie abschieben zu wollen, ist verantwortungslos.

Scholl: Aber was sagen Sie denn einem rechtschaffend empörten Bürger, der meint: Sibirien, ist doch gar nicht schlecht, wird die Lümmel Mores lehren?

Brumlik: Ja, das sind Einzelfälle, die das Jugendamt in Gießen so beschlossen hat, sogar für die relativ kleine Zahl derer, die nun in deutschen Jugendgefängnissen inhaftiert sind und aufgrund von bestimmten Umständen rückfällig werden, kann das einfach nicht der Regelfall werden, sie einfach wegzuschicken.

Scholl: Sie haben sich damals so aufgeregt, dass Sie sagten, jetzt muss mal irgendwie eine fundierte Reaktion her, haben Kollegen angerufen, Kollegen gebeten, Experten verschiedener Disziplinen, der Kriminologie, der Pädagogik, der Sozialwissenschaften um ihre Analyse gebeten. Das Ergebnis liegt jetzt vor als Buch "Ab nach Sibirien?", in Variation eben jener ominösen Titelschlagzeile, "Wie gefährlich ist unsere Jugend?".

Ein Aufsatz, eine Arbeit in Ihrem Buch hat Christian Pfeiffer, der Direktor vom Kriminologischen Forschungsinstitut in Hannover, auch mittlerweile ein prominenter Mann zu dem Thema, mit einem Kollegen zusammen vorgelegt. Eine Studie, von der Sie, Micha Brumlik, so überzeugt sind, dass diese Ergebnisse die Integrationsdebatte für die nächsten Jahre bestimmen werden. Erzählen Sie uns ein bisschen, erläutern Sie uns diese Arbeit. Was haben Christian Pfeiffer und sein Kollege Dirk Baier herausgefunden?

Brumlik: Die haben nun einen Vergleich in Bezug auf diese Gruppe gefährlicher Jugendlicher in zwei Bundesländern vorgenommen, nämlich in Niedersachsen und Bayern, und konnten zeigen, dass in einem Land wie in Niedersachsen, wo die Schulempfehlungen der Lehrer nicht bindend sind, die Überweisung von auch problematischen Schülern an weiterführende Schulen sehr viel höher ist, was signifikant und deutlich ihre Delinquenzneigung senkt.

Das heißt mit anderen Worten, in einem Bundesland wie in Bayern, wo man sich auf Härte viel zugute hält, wo man sich auf Segregation viel zugute hält, tritt genau das ein, was im hessischen Wahlkampf so anklagend bedauert wurde, dass nämlich solche Jugendliche dann mit einer erhöhten Wahrscheinlichkeit zu brutaler Gewalttätigkeit neigen.

Scholl: Das heißt, dass die Schulempfehlung, das heißt, man gibt den Kindern mehr Chancen, dass das praktisch sie einbindet in soziale Zusammenhänge und dass dann die Delinquenz, sagen Sie, die Neigung zur Gewalt, niedriger ist?

Brumlik: Genau das ist der Fall, deutlich zurückgeht.

Scholl: Gleichzeitig ist aber in der Studie, wird auch festgestellt, dass eben in den Familien vieler Migrantengruppen eben eine deutliche, sagen wir mal, größere Akzeptanz von Gewalt eine Rolle spielt.

Brumlik: Das ist der Fall. Und ich kann Christian Pfeiffer nur dazu beglückwünschen, dass er sich hier keinerlei falschen Tabus unterworfen hat. Das ist in der Tat beim Wort zu nehmen und gerade das öffentliche Erziehungssystem hat die Eltern daraufhin anzusprechen.

Scholl: Gleichzeitig wird auch der Medienkonsum empirisch belegt, der größere Medienkonsum von Gewaltvideos führt eben auch zu einer größeren Delinquenz. Das ist natürlich auch wieder ein heißes Eisen. Denn gerade über diesen Zusammenhang wurde ja verschärft diskutiert, in den letzten Jahren schon.

Brumlik: Er führt zu höherer Delinquenz und übrigens auch deutlich zu schlechteren Schulleistungen. Das ist ein weiteres Dilemma der Konservativen, die sich ja schon vor mehr als zehn Jahren überhaupt nicht genug dafür einsetzen konnten, dass das Privatfernsehen mit seinen unkontrollierten gewalttätigen und sexualisierten Sendungen eingeführt werden kann.

Scholl: Die Analysen von Herrn Pfeiffer, die werden nicht groß verwundern, sage ich mal, Herr Brumlik, weil man den Zusammenhang schon ahnte. In diesem Zusammenhang ist aber auch ein weiterer Aufsatz in Ihrem Band sehr interessant und wird wahrscheinlich auch für kontroverse Gespräche oder Diskussionen führen, von dem Sozialwissenschaftler Joachim Kersten, der über den "Code der Straße" schreibt, über einen Ritus, über eine Kultur, wo die Gewalt eigentlich integriert als etwas Akzeptables, wo es um Ehre, Respekt geht, wo Gewalt legitimiert und verteidigt wird und sozial völlig in Ordnung ist. Das ist ein, finde ich, sehr erschütternder Text, weil er nämlich wohl den rechtschaffenen Bürger ein wenig verzagt macht, wenn man denkt, wenn Gewalt eine Kultur ist, wie soll man die durchbrechen, wenn auch nichts anderes als Gewalt akzeptiert wird?

Brumlik: Man muss diese Kultur der Gewalt einerseits an ihren Wurzeln packen. Das heißt, den Konsum von Gewaltmedien einstellen, alle Formen einer brutalen autoritären Erziehung zu Hause nach Möglichkeit unterlassen. Auf der anderen Seite ist es natürlich nötig, dass wir alle Bürgerinnen und Bürger, auch dort, wo es peinlich ist, eingreifen, wenn wir sehen, dass es in der Öffentlichkeit zu gewalttätigen Handlungen kommt.

Aber noch einmal: Der Reflex, solche Leute mit der hier gewachsenen und hier entstandenen Kultur einfach abzuschieben und wegzuschicken, das ist schlicht und ergreifend zu simpel. Das ist so, wie wenn man bei schweren Krankheiten einfach mal ein Aspirin nehmen würde.

Scholl: Noch einmal zurück zu Sibirien. Micha Brumlik, Sie schreiben anlässlich jener "Bild-Schlagzeile", dass die Zeitung, das Blatt, bei diesem Thema als "Projektionsfläche eines kollektiven Unbewussten" zu sehen ist. Das finde ich einen ganz triftigen Gedanken. Denn diese kollektive Unbewusste wäre ja so eine Art archaischer Racheimpuls?

Brumlik: Ja genau. Ich schließ mich nicht der Meinung an, dass die "Bild-Zeitung" unbedingt ein bewusst handelndes Kampfblatt ist, sondern es nimmt Stimmungen auf. Und in dieser ganzen Debatte um die jugendlichen Straftäter kam verdächtig oft das Wort Lager auf. Und wir kennen aus der Geschichte des 20. Jahrhunderts zwei Sorten von Lager. Natürlich einerseits die nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslager, aber eben auf der anderen Seite auch den Gulag der Sowjetunion der 20er-, 30er-, 40er- und 50er-Jahre. Beides sind Rachephantasien in dem Sinne, dass man sagt: raus, weg, einsperren, hart drannehmen.

Scholl: Man könnte ja aber auch umgekehrt sagen so im anthropologischen Zusammenhang, dass jeder so eine Art Projektionsfläche braucht. Ich meine, jeder Mensch reagiert spontan abwehrend und angewidert auf Brutalität und Gewalt und wünscht dem Verursacher sofort die Pest an den Hals.

Brumlik: Ja, das ist ganz natürlich. Man könnte sagen, das ist ja vielleicht auch gut so. Aber bei komplizierten sozialen Zusammenhängen ist es dann doch nötig, mal die Luft anzuhalten, einen Schritt zurückzutreten und ernsthaft nachzudenken.

Scholl: "Ab nach Sibirien - Wie gefährlich ist unsere Jugend", so heißt das aktuelle Buch, erschienen im Beltz Verlag zum Preis von 14,90 Euro und herausgegeben hat es der Erziehungswissenschaftler Micha Brumlik. Ich danke Ihnen für dieses Gespräch!

Brumlik: Ich bedanke mich!