Mexiko

Zwischen Trump, Fiesta und "La Bestia"

Güterzug "La Bestia"
Ein Polizist steht neben dem Güterzug "La Bestia" in Mexiko. © imago/ZUMA Press
Von Isabella Kolar · 19.12.2017
400.000 Menschen reisen pro Jahr durch Mexiko. Ein Teil davon – illegale Migranten zumeist aus Honduras, El Salvador und Guatemala – mit dem berühmt-berüchtigten Güterzug "La Bestia“. Viele kommen an ihrem Traumziel USA nie an.
Die Erinnerung ist noch frisch. Man sieht es Walter an. Ein innerlich wie äußerlich versehrter junger Mann von 24 Jahren mit tieftraurigen Augen.
"Am Zweiten dieses Monats ist es ein Monat her, dass mein Bruder gestorben ist. Er war erst 17 Jahre alt. Sie haben ihn umgebracht, weil sie wollten, dass er Schutzgelder eintreibt und die Leute erpresst."
Walter Xavier Galan wurde auf der Flucht von Honduras in die USA zusammengeschlagen.
Walter Xavier Galan wurde auf der Flucht von Honduras in die USA zusammengeschlagen.© Deutschlandradio / Isabella Kolar
Die Stimme fest. Doch nur wenige Momente später weint Walter. Der jüngere Bruder ermordet. Die Eltern zurückgeblieben in Honduras. Die Frau mit einem der noch kleinen Zwillinge weit weg in den USA. Er allein gestrandet hier in Salto de Agua im tiefen Südosten Mexikos.
Vor 15 Tagen hat er seine Heimatstadt Trujillo verlassen, gelegen in einer wunderschönen Bucht, umgeben von Lagunen und Bergen an der karibischen Nordküste von Honduras. Der Ort, an dem Christoph Kolumbus während seiner vierten Reise 1502 den amerikanischen Kontinent betrat. Doch für Walter Xavier Galan gab es dort nach dem gewaltsamen Tod seines Bruders nichts mehr zu entdecken – außer Mord und Totschlag – weltweit ist Honduras hier trauriger Spitzenreiter.

"Sie haben mich fertig gemacht"

Also nahm Walter die beschwerliche Flucht in Kauf – nach Norden – zu Fuß an die gualtemaltekische Grenze, danach weiter mit dem Zug, mit "La Bestia", der berühmt-berüchtigten, mit der so viele Menschen aus Mittelamerika ihr Glück suchen. Doch die Reise endet abrupt kurz vor Salto de Agua bei einem Zwischenstopp.
"Ich bin in den Laden gegangen und hinter mir kamen zehn Männer rein. Ich dachte, die wollen auch was kaufen. Aber dann haben sie zu mir gesagt: ´Ah, da bist Du ja, komm mal mit raus.' Und dann haben sie angefangen, mich zu schlagen. Sie hatten Macheten und Waffen, sie haben mich fertig gemacht. Als ich hierherkam war ich komplett zusammengeschlagen. Nur dank der Brüder und Schwestern in dieser Kapelle habe ich überlebt. Ich danke Gott, dass er mir so großartige und stolze Menschen geschickt hat, ohne sie wären wir nichts."
Die mexikanische Kleinstadt Salto de Agua, 150 Kilometer von der Grenze Guatemalas entfernt, und Zufluchtsort für illegale Migranten aus Mittelamerika.
Die mexikanische Kleinstadt Salto de Agua, 150 Kilometer von der Grenze Guatemalas entfernt, und Zufluchtsort für illegale Migranten aus Mittelamerika.© Deutschlandradio / Isabella Kolar
Es ist nur fünf Tage her, dass Walter blutüberströmt zu Fuß in Salto de Agua ankam. Dem verschlafenen Nest ziemlich genau an der Grenze der beiden mexikanischen Bundesstaaten Chiapas und Tabasco. Hier steht die kleine hellblaue Kapelle mit Wellblechdach namens "Santa Martha". Geführt von Missionaren des katholischen Steyler Ordens, bekommen hier seit fünf Jahren illegale Migranten - vorwiegend aus Honduras, El Salvador und Guatemala - auf der Durchreise in die USA Asyl - in einem vor staatlichem Zugriff geschützten Raum.
In der Kapelle Santa Marta in Salto de Agua finden Migranten für ein paar Tage Zuflucht. Luiz Figeroa aus El Salvador, Ramón Mejia und Mario Soto aus Honduras (von links) sind aus ihren Heimatländern geflohen und auf dem Weg in die USA.
In der Kapelle Santa Martha in Salto de Agua: Luiz Figeroa aus El Salvador, Ramón Mejia und Mario Soto aus Honduras (von links) sind aus ihren Heimatländern geflohen und auf dem Weg in die USA.© Matthias Hoch / Adveniat
Asyl gedacht für 25 Migranten für einen Zeitraum von 24 Stunden. So die Theorie. Doch oft sind es viel mehr, die viel länger bleiben. Allein 2016 suchten hier über 11.000 Menschen für ein oder zwei Nächte Zuflucht – und Zuspruch. Bis Mitte dieses Jahres waren es 5000. Ein paar Schaumstoffmatten auf dem Betonboden, ein Dach über dem Kopf, saubere Kleidung, Frühstück, eine einfache warme Mahlzeit, nicht mehr. Gleich vor der Tür – in Sichtweite, direkt an der Straße – die Bahngleise.
Die Gleise des Güterzuges "La Bestia" in Salto de Agua. Der Zug kommt immer ohne Vorwarnung.
Die Gleise des Güterzuges "La Bestia" in Salto de Agua. Der Zug kommt immer ohne Vorwarnung.© Deutschlandradio / Isabella Kolar
Niemand weiß, wann "La Bestia" kommt. Ihr Pfeifen aus der Ferne ist das einzige Signal. Dann muss alles sehr schnell gehen. Niemand weiß, ob sie anhält, zügig durchbrettert oder langsam fährt, so dass die Männer im Alter zwischen 18 und 40 Jahren, die es meistens sind, auf die Güterzüge aufspringen können. Oder auch unter die Räder kommen dabei, ihr Leben oder ihre Beine verlieren, erzählt der Steyler Missionar Joachim Mnich, der seit 27 Jahren in Chiapas lebt. Und steht dabei in der freundlichen Novembersonne, bei 30 Grad und blauem Himmel, auf dem grasbewachsenen Gleisbett von "La Bestia". Doch die Idylle trügt.

"Die Regierung will, dass der Zug nicht mehr anhält"

"Zur Zeit ist die Politik von der Regierung und von den verschiedenen Stellen, dass der Zug nicht mehr stehenbleiben darf, er soll schneller durchfahren, damit die Migranten, die sich hier in dieser Kapelle zusammensammeln und auf die 'Bestia', auf den Zug warten, nicht mehr draufsteigen. Aber das ist unterschiedlich. Zum Beispiel gestern ist der Zug hier stehengeblieben. Und wenn der stehenbleibt, dann versuchen die Leute, auf den Zug draufzusteigen."
Der Steyler Missionar Joachim Mnich lebt seit 27 Jahren in Chiapas und engagiert sich für die Migranten.
Der Steyler Missionar Joachim Mnich lebt seit 27 Jahren in Chiapas und engagiert sich für die Migranten.© Deutschlandradio / Isabella Kolar
Das Ziel auf der Flucht vor Gewalt, Ungerechtigkeit, Arbeitslosigkeit, Armut und Korruption: mit "La Bestia" Richtung Norden, über Mexiko-Stadt weiter in die USA zu gelangen. Vor 2014 haben es laut Schätzungen 70 Prozent der Migranten dorthin geschafft. Heute sind es nur zehn Prozent. Denn zum einen wird die Grenze zu Mexiko jetzt stärker kontrolliert.

Migranten als Opfer krimineller Banden

Und zum anderen lauern auf der Strecke viele weitere Gefahren: von denen ist die Migrationsbehörde noch die harmloseste. Für Banden der organisierten Kriminalität sind wehrlose Migranten auf dem Zugdach willkommene Opfer. Die werden ausgeraubt, vergewaltigt, getötet oder als Drogenkuriere missbraucht. Viele erreichen ihr Traumziel nie.
Auf einem Wegweiser vor einer Palme stehen die Worte "Mexiko Only - No USA Return".
Zurück nach Mexiko: Die US-Regierung unter Präsident Donald Trump will viele Illegale abschieben.© AFP/Sandy Huffaker
Und dann hat da ja noch jemand die Absicht eine Mauer zu errichten: nach dem Amtsantritt von US-Präsident Donald Trump im Januar ging die Zahl der Migranten zunächst zurück. Früher wollten von 100 Migranten 80 in die USA und nur 20 in Mexiko bleiben. Heute ist das Verhältnis 50 zu 50. Und nicht immer ist "La Bestia" das Mittel der Wahl:
"Es gibt Menschen, die versuchen zu Fuß zu gehen. Wenn sie erfahren, dass es eine Migrationsbehörde gibt, die auf sie wartet und dass sie von den Zügen heruntergezerrt werden, dann entscheiden sie sich weiter zu Fuß zu gehen. Die Migrationsbehörde und die kriminellen Banden: Alle verlangen Geld."

Für 7000 Dollar von Guatemala in die USA

Die Schlepper verschiedener krimineller Organisationen verlangen für die Schleusung eines illegalen Migranten von Guatemala in die USA derzeit rund 7000 Dollar. Solche Preise sind für Viele unbezahlbar. Und immer mehr Menschen werden noch in Mexiko festgenommen. Nach einem juristischen Verfahren werden sie dann in ihre Heimatländer zurückgeschickt. Endstation Sehnsucht.
Der Metallbauer Alfredo Majat, 56 Jahre, hat es ohne Coyote, also ohne Schlepper, und unversehrt in sechs Tagen zu Fuß von Honduras bis nach Salto de Agua geschafft. Einer von 400.000, die pro Jahr durch Mexiko reisen. Der schmale drahtige Mann mit den lebhaften Augen sitzt mit zwei Gefährten im Vorraum der Kapelle auf einer Matte auf dem Boden und löffelt Fleisch, Gemüse und Reis aus einer kleinen weißen Plastikschale. Auf seinem weiß-grün-schwarz gestreiften T-Shirt ist links der kleine Schriftzug "Columbia" zu lesen. Die Augen des Honduraners glänzen, wenn er von den USA spricht:
Der Metallbauer Alfredo Majat will von den USA aus seine Frau und seine sieben Kinder in Honduras versorgen.
Der Metallbauer Alfredo Majat will von den USA aus seine Frau und seine sieben Kinder in Honduras versorgen.© Deutschlandradio / Isabella Kolar

Papa schickt den Scheck von ganz weit weg

"Es geht natürlich immer darum, in die USA zu kommen, um dort Arbeit zu finden und einen gerechten Lohn zu bekommen, um unseren Familien zu helfen. In meinem Fall, brauche ich für mich nichts, aber für meine Familie schon. Und ich habe die Kraft, in den nächsten Jahren für meine sieben Kinder zu arbeiten. Das möchte ich erreichen, bevor ich sterbe. Und das ist der Grund, weshalb ich in die USA möchte."
Auch er wartet hier auf den Sprung auf "La Bestia". Der Traum von den besseren Lebensbedingungen in den USA hat zur Folge, dass ganze Familien in Mittelamerika auseinandergerissen werden. Alfredos Frau bleibt mit den Kindern zu Hause in Honduras. Und Papa schickt dann den Scheck von ganz weit weg. "Geld statt Liebe" für die ganze Familie.
Doch davor liegt für Alfredo noch "die Hölle", weiß José Leopoldo González, Bischof von Nogales. Auch in seinem Bistum ganz im Norden an der Grenze zum US-Bundesstaat Arizona steht ein Migrantenhaus mit Zuganschluß.
José Leopoldo González ist Bischof von Nogales, ein Bistum und eine Stadt an der Grenze zum US-Bundesstaat Arizona.
José Leopoldo González ist Bischof von Nogales, ein Bistum und eine Stadt an der Grenze zum US-Bundesstaat Arizona.© Deutschlandradio / Isabella Kolar
"In Cavorca gibt es ein Haus für Migranten. Da kommt 'La Bestia' vorbei. Und jeden Morgen gibt es Frühstück für alle. Von 75 sind 68 aus Honduras, vier aus El Salvador und drei aus Chiapas. Die ausländischen Migranten werden in dem Moment, in dem sie die Südgrenze überqueren zur Handelsware. Sie sind dann keine Menschen mehr. Und sie müssen sehr viel leiden, bis sie bei uns sind. Diese Fahrt ist die Hölle. Sie sind illegal und die kriminellen Banden benutzen sie für den Menschenhandel."

68 Ermordete pro Tag in diesem Jahr in Mexiko

Zwei Massaker der Narcos, der Drogenbanden, hat Bischof González in den zwei Jahren seiner Amtszeit in der Grenzregion von Nogales schon erlebt. Das letzte im vergangenen Jahr. Als Schlepper mit ihren Migranten zur Grenze kommen und den Narcos nicht das verlangte Geld bezahlen können, werden alle getötet. Sinnlos abgeschlachtet, in den Worten des Bischofs.
Ein paradoxes Land, nennt González Mexiko und umklammert das Mikrofon dabei als wolle er jemanden erwürgen. Er sitzt an diesem sonnig-warmen Sonntagnachmittag im Zentrum von Mexiko-Stadt an einem breiten dunklen Holztisch neben dem Generalsekretär der Mexikanischen Bischofskonferenz, Alfonso Miranda Guardiola, Weihbischof von Monterrey. Und zu einer der vielen Paradoxien Mexikos gehört, dass ausgerechnet im Narcoland – mit 68 Ermordeten pro Tag im Schnitt in diesem Jahr – der Toten besonders fröhlich gedacht wird.
Ein Stand mit Totenköpfen in Mexiko-Stadt
Ein Stand mit Totenköpfen in Mexiko-Stadt© Deutschlandradio / Isabella Kolar

"Dias de Los Muertos" - Fest für die ganze Familie

La Fiesta – drei Tage im Herbst begeht Mexiko alljährlich sein Totenfest, die "Dias de Los Muertos", ein Fest für die Familie, die kreative Mischung aus präkolonialer und katholischer Tradition. Die beliebten Calaveras, die Totenköpfe aus Amaranth, Zucker oder Schockolade stappeln sich schon in den Läden und auf den Märkten der Stadt. Die katholische Kirche steht diesem Treiben traditionell eher skeptisch gegenüber. Der Weihbischof als Diplomat:
"Das ist eine Tradition hier in Mexiko, wir feiern sie. Sie ist in erster Linie kulturell bedingt, nicht religiös, nicht katholisch. Natürlich akzeptiert die katholische Kirche diese Art religiöser Riten. Wir tun das, was wir können auf den Friedhöfen und in den Kirchen. Wir respektieren und erhalten diese mexikanische Tradition."
Ein Altar zu Ehren des Totenfestes in der Kathedrale von Mexiko-Stadt
Ein Altar zu Ehren des Totenfestes in der Kathedrale von Mexiko-Stadt© Deutschlandradio / Isabella Kolar
Der Beweis für Guardiolas Worte steht in der Kathedrale von Mexiko-Stadt, der größten und ältesten Kathedrale Lateinamerikas, und Sitz des katholischen Erzbischofs von Mexiko. In diesem Mammutbau versteckt sich in einer Ecke ein Altar auf dem Bananen, Guaven, Kürbisse, Kerzen und Blumen liegen - zu Füssen von Catrina, dem Skelett mit dem großgeblümten Hut, der vielfach abgebildeten Symbolfigur des Totenfestes. Solche Altäre findet man in diesen Tagen in vielen Häusern, auf Friedhöfen, Straßen und sogar Flughäfen.
Totenfest auf dem Zócalo, dem zentralen Platz, in Mexiko-Stadt
Totenfest auf dem Zócalo, dem zentralen Platz, in Mexiko-Stadt© Deutschlandradio / Isabella Kolar
Gleich vor der Tür tobt das Leben: auf dem zentralen "Plaza de la Constitución", genannt auch Zócalo, ist direkt vor dem Nationalpalast eine große Bühne aufgebaut plus tanzender und singender und hüpfender Popband. Die derart beschallten Menschen flanieren bzw. quetschen sich unter tausenden bunten Fahnen vorbei an Skeletten aus Gips, Pappmaché oder der mit Totenköpfen dekorierten Version aus Fleisch und Blut. Mexiko-Stadt – die kommerzielle Variante von "Los Dias de Los Muertos".
Schnappschuss zur Erinnerung an das Totenfest - Touristen auf dem "Zócalo"
Schnappschuss zur Erinnerung an das Totenfest - Touristen auf dem "Zócalo" © Deutschlandradio / Isabella Kolar

Totenfest in der mexikanischen Provinz

Über 700 Kilometer südöstlich in den üppig-grünen Bergen von Chiapas klingt das am Vormittag dagegen ganz anders: Die schlichte Kirche Santa Maria de Guadalupe im Dorf "Centro Triaquil". Vorne vor dem Altar die Männer: die vierköpfige musizierende Mariachi-Band mit der dickbäuchigen Gitarre, dem Guitaron, und der kleinen, der Viguela, sowie zwei Trompeten.
Totenfest im Dorf "Centro Triaquil" in Chiapas
Totenfest im Dorf "Centro Triaquil" in Chiapas© Deutschlandradio / Isabella Kolar
Auf den Bänken zur Rechten die Frauen in bunten Trachten samt ihrer herausgeputzten Kinder. Der 30-jährige Mariano Peres mit dem Real-Madrid-T-Shirt bläst hier die Trompete. Er hat die Schule früh abgebrochen und verdient seinen Lebensunterhalt durch Arbeiten auf dem Feld.
Trompetenspieler Mariano Peres (re.) mit einem Freund und dessen Kind
Trompetenspieler Mariano Peres (re.) mit einem Freund und dessen Kind© Deutschlandradio / Isabella Kolar
"Beim Totenfest erinnern wir uns an alle Verstorbenen. Man betet für sie, man feiert eine Messe. Es ist wichtig für uns, weil es eine Tradition unserer Vorfahren ist. So ist unsere Kultur und wir feiern das jedes Jahr. Die Leute kommen zusammen und feiern zusammen. Nach der Messe isst man gemeinsam, bevor man nach Hause geht."
Nur zu Fuß erreicht man das idyllische Dorf mit eigenem Brunnen, in dem das indigene Volk der Tzeltal lebt. Umgeben von Kaffeepflanzen und Palmen wohnen in dieser Region 80 Familien mit ihren jeweils mindestens sechs Kindern. Es sind Kleinbauern, die davon leben, dass sie Bohnen, Mais, Kräuter und Kaffee anbauen, ausschließlich für den Eigenbedarf. Auch ihre Sprache nennt sich Tzeltal, nur Wenige sprechen hier Spanisch.
Grüne Hügellandschaft im mexikanischen Bundesstaat Chiapas
Grüne Hügellandschaft im mexikanischen Bundesstaat Chiapas© Deutschlandradio / Isabella Kolar
Jesuitenpfarrer José, genannt Pepe, ist aus der 20 Minuten entfernten zuständigen Gemeinde Bachajon gekommen, um hier den Gottesdienst abzuhalten. Neben dem Altar liegen vier symbolisch aus dünnen Baumstämmen geformte und mit Blumen und Früchten geschmückte Gräber, darunter ein kleines für ein Kind.
Mika Morena de Aragon zündet in der Kirche Santa Maria mit ihren beiden Enkelinnen Kerzen an.
Mika Morena de Aragon zündet in der Kirche Santa Maria mit ihren beiden Enkelinnen Kerzen an.© Deutschlandradio / Isabella Kolar
Frauen und Kinder des Dorfes kommen im Laufe der Messe nach vorne und entzünden schlanke weiße Kerzen. Weihrauchdampf und Duft verbreiten sich schnell in der kleinen Kirche. Abwechselnd verlesen ein junger Mann und eine junge Frau vor dem Altar aus einem dicken Buch die Namen der Verstorbenen des Dorfes. Nach zwei Stunden der Predigt und des gemeinsamen Gedenkens klingt an diesem sonnigen blauhimmeligen Tag in der Kirche Santa Maria in Chiapas der Gottesdienst so aus, wie er angefangen hat: musikalisch.
Eine junge Frau verliest im Gottesdienst die Namen der Verstorbenen des Dorfes "Centro Triaquil".
Eine junge Frau verliest im Gottesdienst die Namen der Verstorbenen des Dorfes "Centro Triaquil".© Deutschlandradio / Isabella Kolar

Chef des Dorfes setzt auf klare Rollenteilung

Das achtjährige Indiomädchen María im weißen Kleid mit der weißen Blumenborte hat beim Gottesdienst in der ersten Bank ganz still gesessen und aufmerksam zugehört. Jetzt rennt sie schnell hinüber, zu der Hütte nebenan, wo die Mütter Tortillas fürs Mittagessen backen und wo es so gut riecht. Dort sitzt auch schon der Chef des Dorfes, der 71-jährige Diakon Miguel Moreno Albaro, fit und drahtig, grauer Schnauzer und kleine wache braune Augen.
Der Diakon des Dorfes "Centro Triaquil" Miguel Moreno Albaro
Der Diakon des Dorfes "Centro Triaquil" Miguel Moreno Albaro© Deutschlandradio / Isabella Kolar
Er hat zwölf Kinder und 17 Enkel. Er ist also – obwohl Diakon – verheiratet und repräsentiert seit 1975 nicht nur die religiöse Führung des Dorfes. Seine Aufgabe sei es, das "Centro Triaquil" in Harmonie zu halten, sagt Albaro.
"Wir haben eine Rollenverteilung hier im Dorf. Die Männer kümmern sich um die Aufgaben, für die man Kraft braucht: Sie sammeln das Holz, sie sind für die Landwirtschaft zuständig, sie bestellen das Maisfeld, sie pflanzen an und sie sorgen auch dafür, dass Geld rein kommt. Manchmal muss auch jemand auswandern, wenn nötig bis in die USA, um Geld in das Dorf schicken zu können. Die Frauen haben ihre entsprechende Rolle, natürlich in der Kindererziehung, in allem was Haushalt und Ernährung betrifft, sowie Kochen und Waschen."
Mika Morena de Aragon mit ihren beiden Enkelkindern
Mika Morena de Aragon mit ihren beiden Enkelkindern© Deutschlandradio / Isabella Kolar
Haushalt, Ernährung, Kochen, Waschen – Neben dem Diakon sitzt die stattliche Mika Morena de Aragon, 57 Jahre, sieben Kinder, sechs Enkel und hat noch eine kleine Ergänzung:
"Was die Ausbildung von Mädchen und Jungen betrifft, so können die Mädchen genauso eine weitergehende Schule besuchen, sie haben da die gleichen Rechte. Es ist auch möglich, dass sie aus dem Dorf weggehen, draußen heiraten, ihr Geld verdienen. Wenn sie dann aber zurückkommen und die Eltern nicht respektieren und sich hier ungehörig benehmen, dann gibt’s Ärger. Also wir erwarten schon, dass sie sich den Regeln und den Gebräuchen des Dorfes anpassen. Ansonsten gilt: Männer und Frauen haben die gleichen Rechte."
María, acht Jahre, Tzeltal-Mädchen aus Chiapas
María, acht Jahre, Tzeltal-Mädchen aus Chiapas© Deutschlandradio / Isabella Kolar
María steht am Tisch, stützt den Kopf aufs Kinn, lächelt schüchtern zu Mika hinauf. Seit vier Jahren ist das Dorf autonom, regiert sich selbst auf der Grundlage des in der nationalen Verfassung von Mexiko festgeschriebenen Rechts von den "usos i costumbres", also von den "Bräuchen und Traditionen". Mariano Moreno, 46 Jahre, ist als Gemeindeleiter zuständig für die politischen und sozialen Belange im Rahmen der indigenen Gesetzgebung. Ihr Dorf habe gemeinschaftlich beschlossen, autonom zu werden, weil der mexikanische Staat die Bedürfnisse der Indios ignoriert habe, sagt Mariano.
"Wir haben dieses indigene Recht zwar laut Verfassung, aber es wird in der Praxis überhaupt nicht respektiert. Wir sind arme Menschen und die Regierung tut eigentlich nichts für uns. Und deswegen haben wir bei einigen Projekten, wie bei dem Bau einer Straße gesagt, dass wir damit nicht einverstanden sind. Das indigene Recht sieht vor, dass man uns vorher befragt, ob wir dieses Projekt hier in unserer Region haben wollen oder nicht. Das haben sie nicht gemacht. Denn wir wissen, die Interessen der reichen Menschen gehen dahin, dass sie unseren Reichtum, den wir hier haben, ausbeuten wollen. Wir haben Wasser, wir haben Bodenschätze, wir haben auch Erdöl hier – und das soll uns genommen werden und damit sind wir nicht einverstanden."

Erstmals indigene Kandidatin bei Präsidentschaftswahl 2018

Bei der Präsidentschaftswahl am 1. Juli kommenden Jahres schicken Mexikos Indios erstmals eine eigene Kandidatin ins Rennen. Könnte das ein Lichtblick sein für diese indigene Gemeinschaft, für die Zukunft von María und all den anderen Kindern, die sich fröhlich auf den Bänken vor Mariano drängeln?
Mariano Moreno, Gemeindeleiter der Dorfes "Centro Triaquil" glaubt, dass die mexikanische Regierung nichts für die Indigenen tut.
Mariano Moreno, Gemeindeleiter der Dorfes "Centro Triaquil" glaubt, dass die mexikanische Regierung nichts für die Indigenen tut.© Deutschlandradio / Isabella Kolar
"Von den Reformen, die die Regierung angeblich für die indigene Bevölkerung gemacht haben will, haben wir bisher noch nichts bemerkt. Im Gegenteil, uns geht es immer schlechter. Jetzt sind zum Beispiel die Kosten für die Elektrizität, für das Licht gestiegen und wir sind zu der zuständigen Behörde gegangen, um uns zu beschweren. Wir sind zwar zu den letzten Wahlen im Jahr 2015 gegangen, haben aber ein Null Votum abgeben, alles durchgestrichen, um zu zeigen, dass wir dieses parteipolitische System nicht unterstützen. Unsere indigene Kandidatin für die Wahl im kommenden Jahr, María de Jesús Patricio, haben wir am 15. Oktober hier in Chiapas getroffen, 80.000 Leute waren bei ihrer Veranstaltung. Wir haben ihr unsere Situation und Nöte geschildert. Wir wollen, dass sie etwas für uns tut und wir wollen sie unterstützen."
Auch die Zapatistischen Streitkräfte der Nationalen Befreiung EZLN unterstützen die Kandidatur der 57-jährigen Ärztin María de Jesús Patricio Martínez. Die Rebellen der linken Guerillabewegung hatten Anfang 1994 zu den Waffen gegriffen und in Chiapas mehrere Ortschaften besetzt. Der Aufstand wurde später niedergeschlagen. Einige Gemeinden der Region werden aber noch immer von Räten unter der Führung der EZLN regiert. Ihr Ziel bis heute: die Verbesserung der Lage der indigenen Bevölkerung im Land. Wie sagte María Martínez, die neue Hoffnungsträgerin der Indigenen in Mexiko, bei ihrer Einschreibung im Wahlamt in Mexiko-Stadt:
"Sie haben uns viele Steine in den Weg gelegt. Sie glauben, dieses System sei nur für die da oben, nicht für uns Arbeiter und schon gar nicht für die indigenen Gemeinschaften. Aber heute haben wir den ersten Schritt gemacht."
Ein erster kleiner Schritt für die große María. Und vielleicht ein ganz großer für die Kleine. Später einmal. Denn das Kind hat jetzt erst mal Hunger. Es gibt Hühnchen mit Gemüse und Reis. Die Zeit bleibt nicht stehen, auch im Dorf "Centro Triaquil" mitten im grünen Dschungel von Chiapas im Südosten Mexikos.

Die Recherche-Reise nach Mexiko wurde unterstützt von Adveniat, dem Lateinamerika-Hilfswerk der Katholiken in Deutschland.

Mehr zum Thema