Merkels Dilemma

Von Peter Lange, Chefredakteur Deutschlandradio Kultur · 02.04.2011
Ein Dilemma beschreibt laut Duden eine Zwangslage, in die jemand gerät, wenn er zwischen zwei in gleicher Weise unangenehmen Dingen wählen muss. In einem Dilemma befindet sich seit drei Wochen die Koalition von Angela Merkel.
Ihre Atomenergie-Politik ist nur noch eine Ruine, den japanischen Reaktoren nicht unähnlich. Und dem radioaktiven Fallout dort entspricht der politische Fallout hier, der die Union Baden-Württemberg gekostet und die FDP in eine Existenzkrise geführt hat.

Das Dilemma der Koalition: Sie kann ihren bisherigen Kurs nicht gegen den neuen Konsens der Bevölkerung durchhalten, die so schnell wie möglich, auf jeden Fall schneller als geplant, aus der Atomkraft raus will. Sie kann aber auch nicht ohne Weiteres kehrtmachen; der Verlust an Glaubwürdigkeit wäre zu groß.

Ob Schwarz-Gelb jetzt die Atomenergie schneller hinter sich lässt, als es selbst Rot-Grün durchsetzen konnte – gegen den erbitterten Widerstand von Union und FDP übrigens; oder ob die Regierung nach einer Überprüfung grundsätzlich bei ihrer bisherigen Linie bleiben will: Sie wird in jedem Fall dafür politisch bezahlen müssen, weil sie sich mit der Verlängerung der AKW-Laufzeiten schlicht verzockt hat.

Allen Befürwortern des Merkel'schen Atomkurses dürfte, nein müsste, im Stillen klar gewesen sein: Das geht gut, solange nicht irgendwo etwas Schlimmes in der Dramatik von Tschernobyl passiert. Nach aller Wahrscheinlichkeit passiert so ein GAU alle paar hundert Jahre. Aber die Wahrscheinlichkeitsrechnung schließt eben nicht aus, dass es morgen passiert. So wie es Lottospieler gibt, die entgegen der Wahrscheinlichkeit eben doch sechs Richtige haben. Dieses Restrisiko hat die Koalition in Berlin durch die Katastrophe von Japan voll getroffen. Und in ihrer Hilflosigkeit wirkt sie nicht viel anders als die überforderten Arbeiter und Verantwortlichen in Japan.

Die kommunikativ völlig unvermittelte Kehrtwende, die nun zu besichtigen ist, trifft die Union in ihrem Kern, ähnlich wie die Agenda-Politik von Gerhard Schröder die SPD in die Identitätskrise getrieben hat. Aber wo sich Schröder um den Preis des Scheiterns glaubwürdig an die Spitze einer neuen Sozialpolitik gesetzt hat, da taktiert Angela Merkel immer noch. Das verstärkt die Richtungslosigkeit und verschlimmert den Schaden an Glaubwürdigkeit.

Nehmen wir zum Beispiel die "Immer schon"-Politiker; Leute aus der Union, die behaupten, die Partei sei eigentlich immer schon gegen die Atomkraft gewesen. Eigentlich sei das ein Projekt der sozialliberalen Regierung von Helmut Schmidt gewesen. Eine ziemlich schlichte Spekulation auf das kurze Gedächtnis der Zeitgenossen. Sie soll den Atomminister Strauß ebenso vergessen machen wie die Tatsache, dass Atomkraftgegner wie Herbert Gruhl und Alfred Mechtersheimer aus der Union hinausgemobbt wurden. Mitte der 70er-Jahre gab es im Bundestag eine Allparteien-Koalition für die Atomenergie, der die Bürgerinitiativen und die Grüne Partei überhaupt ihre Entstehung verdanken.

Noch schlimmer trifft es freilich die FDP. Ihr Vorsitzender Westerwelle hat über die Jahr die Attitüde gepflegt, er sei der einzige unter einem Heer von politischen Geisterfahrern, der immer weiß, welches die richtige Richtung ist. Die Freien Demokraten haben als ehemals populistische Oppositionspartei nie in die Regierungsrolle gefunden und deshalb massiv an Glaubwürdigkeit verloren. Ein Atomschwenk kann der FDP den Rest geben.

Der GAU von Japan trifft aber die Parteien insgesamt. Das Vertrauen in die Kompetenz der Politik ist über die Jahre geschwunden, weil ihr in den beschleunigten und inzwischen wohl zu schnellen Prozessen immer öfter hastige Entscheidungen abverlangt werden. Und die stehen immer im Gegensatz zu dem, was man bis gestern noch als Überzeugung vertreten hat. Der abrupte Umbau des Sozialstaats a la Schröder; gegen die Finanzkrise Konjunkturprogramme, die bis gestern noch als Geldverbrennung abgelehnt wurden, angeblich alternativlose Finanzspritzen für bankrotte Banken und Staaten, die Abschaffung der Wehrpflicht unter dem Diktat leerer Kassen. Und jetzt ebenso unvermittelt die große Atomwende.

Ein Kommunikationsgau nach dem anderen. Es trifft die regierenden Parteien besonders, und im Moment spricht einiges dafür, dass die CDU sich auf dem Abstieg in die 30-Prozent-Zone befindet, den die SPD schon hinter sich hat.

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