Menschliches Ersatzteillager

Rezensiert von Joachim Scholl · 30.09.2005
Der in Japan geborene Schriftsteller lässt eine Überlebende zu Wort kommen: Kathy H. hat in einem Heim für geklonte Kinder gelebt, die eines Tages ihre Organe spenden müssen. Mit seinem sechsten Roman will Kazuo Ishiguro nicht die aktuelle Genetikdebatte kommentieren, sondern grundsätzliche Lebensfragen aufwerfen.
Zu Anfang ist dieser Roman ein Idyll, am Ende glaubt man sich in einem Horrorfilm. In dem britischen Internat Hailsham wachsen fröhliche Kinder wohlbehütet zu jungen Menschen heran: Sie treiben Sport, lernen Mathematik und englische Literatur, sind albern, zu Streichen aufgelegt. Die Ich-Erzählerin Kathy H. gehört zu diesen Schülern, und mit inzwischen 31 Jahren, auf langen Autofahrten über Land, lässt sie diese anscheinend so unbeschwerte Zeit Revue passieren. Doch irgendetwas ist seltsam an Kathys Erinnerungen. Warum spricht sie so ganz selbstverständlich von "Aufsehern", warum ist nie von Eltern die Rede, weshalb durften die Kinder das Internatsgelände erst als Erwachsene verlassen? Ungerührt erzählt Kathy von ihrer späteren Arbeit als "Betreuerin", sie bringt ihre Patienten gut durch, die meisten sogar bis zur vierten "Spende".

Erst allmählich begreift der Leser den vollen Schrecken: Die Kinder von Hailsham sind Klone, wandelnde Ersatzteillager, nur dazu geboren, ihre Organe zu spenden. Das ist "alles, was wir geben mussten"! Auch die Zöglinge von Hailsham wissen zunächst nichts von ihrem Schicksal, sie werden behutsam darauf vorbereitet. Aber sie rebellieren nicht gegen dieses Los, als "Auserwählte" sind sie schließlich sogar stolz darauf, der Gesellschaft nützlich zu sein.

Kazuo Ishiguro hat auch in diesem, seinem sechsten Roman jene literarische Methode angewendet, die ihn weltberühmt gemacht hat. Alle Helden Ishiguros geben sich Rechenschaft, erzählen ihr Leben wie vor einem eingeweihten Gremium. Sie berichten allein aus ihrer Perspektive, dabei sind sie um äußerste Sachlichkeit bemüht, nie verlieren sie ihre Selbstbeherrschung. Der Leser muss sich den äußeren wie psychologischen Kontext selbst erschließen, erst während der Lektüre kommt man dahinter, was mit diesen Menschen los, was schief gegangen ist.

In "Alles, was wir geben mussten" radikalisiert Ishiguro dieses Prinzip, denn hinter Kathys Erzählung verbirgt sich eine abgrundtiefe Verzweiflung, der niemals wirklich Raum gegeben wird. Am Ende sind alle ehemaligen Schulkameraden Kathys tot, niemand überlebt die vierte Spende. Einer der letzten Sätze lautet: "...obwohl mir die Tränen die Wangen herunter liefen, schluchzte ich nicht, verlor ich nicht die Beherrschung."

Kazuo Ishiguro beteuert, er habe mit seinem Roman keinerlei Kommentar zur aktuellen Gen-Debatte liefern wollen. Was ihn interessiere, seien grundsätzliche Fragen: Was bedeutet "Leben" in unserer Zeit? Ist der Mensch wirklich mehr als die Summe seiner Teile? Was meinen wir eigentlich, wenn wir von "Seele" sprechen? Ishiguros junge Klone sind metaphysische Symbole, sein Roman eine beklemmend-grausame Spekulation über ein ewiges Menschheitsthema.

Der Autor wurde 1954 in Japan geboren, mit sechs Jahren kam er nach England. Schon sein erster Roman "Damals in Nagasaki" (1982) wurde preisgekrönt. Mit "Was vom Tage übrig blieb" (1990) – verfilmt mit Anthony Hopkins und Emma Thompson –schrieb er einen millionenfach verkauften Weltbestseller und erhielt den renommierten Booker Prize. Auch in diesem Jahr 2005 steht Kazuo Ishiguro erneut, zum vierten Mal in Folge, auf der Shortlist des renommiertesten englischen Literaturpreises, und er hat dabei solche Stars wie Salman Rushdie und Ian McEwan verdrängt. Amerikanische Kritiker waren so bewegt von Ishiguros neuestem Werk, dass sie ihn zum Anwärter auf den nächsten Literatur-Nobelpreis erklärten.


Kazuo Ishiguro: Alles, was wir geben mussten
Aus dem Englischen von Barbara Schaden, Verlag Karl Blessing (München), 320 Seiten, 19,90 Euro.