Menschenhandel

EU sucht Strategien gegen Schlepper

Flüchtlinge werden im Mittelmeer von Bundeswehrsoldaten auf zwei Speedbooten von ihrem Holzboot abgeholt und anschließend zur Fregatte Schleswig-Holstein gebracht. Im Hintergrund ist die britische HMS Enterprise zu sehen.
Flüchtlinge werden im Mittelmeer von Bundeswehrsoldaten auf zwei Speedbooten von ihrem Holzboot abgeholt und anschließend zur Fregatte Schleswig-Holstein gebracht. Im Hintergrund ist die britische HMS Enterprise zu sehen. © picture alliance / dpa / Gioia Forster
Von Klaus Martin Höfer · 04.07.2016
Das Schlepper- und Schleusergeschäft boomt. Dabei geht es nicht mehr nur um Bootspassagen, auch für gefälschte Pässe hat sich ein großer Markt entwickelt. Die Behörden wünschen sich mehr Datenaustausch und bessere Kontrollen. Doch reicht das?
Der Kühllastwagen mit dem ungarischen Kennzeichen kam den Polizisten in Östereich verdächtig vor. Er stand verlassen auf einem Parkplatz der Autobahn A 4 in der Nähe von Parndor, wenige Kilometer von der Grenze entfernt. Die Beamten öffneten die Hecktür des LKW – und fanden 71 Leichen: Männer, Frauen, Kinder, erstickt, weil es in dem LKW keine Lüftung gab. Die Afghanen, Iraker und Syrer hatten Schleusern vertraut, sie über die Grenze zu schmuggeln. Am selben Tag wurde der ungarische Bezirksstaatsanwalt Gabor Schmidt von seinen österreichischen Kollegen informiert. Auf beiden Seiten der Grenze wurde nun ermittelt. Gabor Schmidt:
"Die ungarischen Polizeibehörden konnten den Besitzer des LKW ermitteln und auch, wer das vorübergehende Zulassungskennzeichen beantragt hatte. Am selben Tag wurden drei bulgarische Staatsbürger, ein afghanischer Staatsbürger und zwei Tage später ein weiterer bulgarischer Staatsbürger verhaftet."

Grenzüberschreitende Zusammenarbeit führte zum Erfolg

Die fünf Verdächtigen sitzen seitdem in Untersuchungshaft. Die schnellen Erfolge führt Staatsanwalt Schmidt auf die gute Zusammenarbeit der Polizeibehörden zurück. Sie gehen davon aus, dass die Schleuser an der serbisch-ungarischen Grenze die Flüchtlinge an Bord genommen hatten. Noch auf ungarischem Staatsgebiet müssen sie in dem Kühlwagen erstickt sein; deswegen übernahm später eine dortige Staatsanwalt die Ermittungen nicht nur für Schleusung, sondern auch für Mord.
Offenbar steckte organisiertes Verbrechen dahinter, auch in Deutschland wurden elf Komplizen verhaftet, so genannte "facilitors", die vor Ort ausführen, was die Organisatoren weiter entfernt planen. Und die ließen sich offenbar auch von ersten Verhaftungen nicht abschrecken.
"Dies zeigt die Skrupellosigkeit dieser Täter. Am nächsten Tag starteten sie einen Transport mit 68 weiteren Migranten. Das Fahrzeug wurde von der österreichischen Polizei angehalten. Alles, was zählt ist Habgier, finanzieller Gewinn – ohne Respekt für Leben und für Menschen."

Mehr Gewinn, weniger Risiko auf der Mittelmeerroute

Für Migrationsforscher ist es ein bekanntes Phänomen: Je schwieriger die Passage ist, sei es durch geografische Hindernisse, durch unstabile Machtverhältnisse in den Transitländern oder eben durch dichte Polizei- und Grenzkontrollen, desto wichtiger sind Schleuser, und desto teurer sind sie. Denn alles ist ein Geschäft, das nach Angebot und Nachfrage funktioniert, sagt sagt Tuesday Reitano von der Nichtregierungsorganisation "Global Initiative against Transnational Organized Crime".
"Folglich müssen die Menschen mehr bezahlen, und wenn sie mehr bezahlen müssen und die Schmuggler stärker benötigt werden, kippt das Machtverhältnis zwischen Migrant und Schmuggler. Dann kommt es zu schlimmer Ausbeutung und zu Missbrauch."
Zum Beispiel auf der Route von Libyen nach Italien. Seit dort Schiffe der EU-Grenzagentur Frontex, der Militärmission "Sophia" und von Nichtregierungsorganisationen kreuzen, gehen die Schleuser weniger Risiko ein. Sie wollen nicht selbst in Kontrollen geraten und auch nicht riskieren, dass ihre Boote beschlagnahmt und zerstört werden. Deswegen erhalten die Flüchtlinge jetzt schlechtere Boote und weniger Treibstoff, um nur noch den Weg in die internationalen Gewässer zu schaffen. Dort, so sagen die Schleuser den Flüchtlingen, würden sie dann von Schiffen gerettet. Das Risiko für die Schleuser sinkt, der Gewinn steigt – und es sind mehr Flüchtlinge ertrunken als zuvor. Klaus Rösler, Direktor der EU-Grenzschutzagentur Frontex:
"Der durch die nicht mehr nötigen Kanistern eingesparte Platz auf den Gummibooten kann jetzt mit noch mehr Migranten besetzt werden. Waren es früher pro Fahrt in einem nicht seetauglichen Gummiboot 100 bis 110 Personen, sind es jetzt im Schnitt 120 bis 130."

Auch der Handel mit gefälschten Pässen boomt

Solche Erkenntnisse erhält Frontex-Chef Rösler aus sogenannten "De-Briefings", drei- bis vierstündigen und, wie er betont, freiwilligen und anonymen Interviews von Ermittlern mit Flüchtlingen in den Aufnahmeorten, den so genannten "Hotspots". Dort werden die Migranten registriert, "grenzpolizeilich" erfasst, wie es Rösler nennt.
Frontex greift auch auf andere, öffentlich Daten zurück, wie die der IOM, der International Organisation of Migration. Sie führt auch Interviews mit Migranten, aber meist in den Herkunfts- und Transitländern, ebenso wie Nichtregierungsorganisationen wie die von Tuesday Reitano. Sie beobachten ähnliche Entwicklungen, seit durch den EU-Türkei-Vertrag die Route auf die griechischen Inseln dicht ist:
"Es gibt einen enormen Markt für falsche Dokumente. Während der Preis für eine Schiffspassage bei eintausend, eintausenddreihundert Dollar lag, kosten gefälschte Dokumente, um an Bord eines Flugzeugs zu kommen bis zu 8000, 9000 Dollar pro Person."

Fachleute von Europol kontrollieren am Flughafen

Wegen der gefälschten Pässe hat die europäische Polizeibehörde Europol bereits Fachleute abgestellt, die auf europäischen Flughäfen dortige Grenzbeamte unterstützen sollen, falsche Einreise- und Visa-Dokumente zu erkennen. Beim Geschäft der Schleuser sind allerdings nicht nur hochqualifizierte Fachleute wie Passfälscher beteiligt. Es gibt Hintermänner, die alles organisieren, Schutzgelderpresser, Erkunder an den Grenzen oder, wie im Fall der Toten in dem ungarischen LKW, auch Fahrer und Menschen, die die Fahrzeugpapiere beschaffen.
Mehr als 90 Prozent aller Flüchtlinge haben irgendwann mal die Dienste von Schleusern angenommen. Bei einer Million Flüchtlinge erscheinen dann die 1200 "facilitators", also örtliche Handlanger von Schleuserbanden, die Frontex an den Grenzen festgesetzt hat, eher gering. Frontex-Direktor Klaus Rösler:
"Ich möchte mich nicht an Spekulationen beteiligen und ich rede auch ungern über Dunkelziffern. Schleusung ist ja auch schon, wenn Angebote über Facebook erfolgt, dass man sich bestimmter Kontakte bedienen kann. Ich will jetzt nicht einen Zahlenvergleich herstellen und überlegen, wie hoch eine Dunkelziffer sein kann. Das ist einfach zu vage, das kann man mit solchen Überblicksstatistiken nicht tun."

Den Schleppern die Geschäftsgrundlage entziehen

Klar ist aber, dass es viele dieser Hintermänner gibt, die die Fäden in der Hand halten. Zum Beispiel Milizen in Libyen, die die dortigen unklaren Machtverhältnisse ausnutzen, aber auch bereits Jahrzehnte bestehende Mafia-Strukturen in der Türkei – Kriminelle, die im internationalen Heroinhandel zwischen Asien und Europa Erfahrung haben und wissen, welcher örtlicher Polizist oder Richter bestechlich ist – und die dafür Schutzgeld von den Schleusern kassieren. Tuesday Reitano:
"Alle Netzwerke, die das Schleusen von Syrern organisieren, müssen zumindest einen türkischer Ansprechpartner haben, der auf einer relativ hohen Ebene die Kontaktperson des organisierten Verbrechens ist, das die örtlichen Schutzgelder kassiert."
Ermittler, Grenzbehörden und Militärs wünschen sich besseren Informationsaustausch zwischen nationalen und EU-Einrichtungen, bessere Kontrollen. Doch auch ihnen ist klar, dass den Schmugglern langfristig nur dann beizukommen ist, wenn ihnen die Geschäftsgrundlage entzogen wird: Staatliche und ökonomische Strukturen vor Ort, in Nachbarländern stärken, um in den Ländern südlich der Sahara eine Perspektive zu bieten. Und für die Flüchtlinge aus Kriegsgebieten wie Syrien fordert Migrationsforscherin Tuesday Reitano:
"Für die syrischen Flüchtlinge, die in den Nachbarländern Zuflucht gesucht habe, brauchen wir bessere Lösungen, damit sie dort bleiben. Asyl ist ein internationales Menschenrecht. Warum sollen also die Flüchtlinge illegal nach Europa reisen, um dort Asyl zu beantragen? Idealerweises sollte es die Möglichkeit, Asyl zu beantragen, dort geben, wo die Flüchtlinge zuerst untergekommen sind. Dann würde es keinen Bedarf mehr für Schleuser geben."
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