Menschen im Großstadtlabor

08.09.2010
Richard Price schreibt die besten Dialog unserer Zeit – kein Wunder, dass seine Bücher immer wieder von Hollywood verfilmt werden. In "Cash" lässt Price nun die Jugendlichen aus New Yorker Sozialbausiedlungen mit Künstlern und Besserverdienern zusammenprallen.
Wir, die wir mit amerikanischen TV-Serien und Krimis aufgewachsen sind, leben quasi in New York, diesem Projektionsraum der urbanen Erfahrung. Die Stadt am Hudson River ist Teil der persönlichen Erlebniswelt: In zahllosen Filmen, Büchern und Fernsehserien haben wir diese Metropole durchstreift, sind mit Cops und Junkies, Yuppies und Models durch Manhattan gezogen, haben in der Bronx gekämpft und in Harlem gelitten. New York: eine globale Phantasmagorie.

"Cash" ist wieder so ein Text, aus dem wir unsere Zivilisationszustände in destillierter Form herauszulesen glauben. Und vielleicht stimmt es sogar: Der Roman spielt an der Lower East Side, einem Manhattan vorgelagerten Stadtteil, in dem die Gentrifizierungskämpfe toben. Kennen wir das nicht auch aus Hamburg, München und Berlin? Dass die sozial schwachen Viertel erst von den Kreativen bevölkert, dann von einem finanzkräftigen Bürgertum erobert werden - und damit der soziale Stresspegel bisweilen ins Extreme steigt?

In Prices Roman prallen die Jugendlichen der Sozialbausiedlungen mit den Künstlern und Besserverdienern zusammen: Zwei schwarze Jungs wollen drei weiße Bohemiens hochnehmen, am Ende gibt es eine Leiche und die vielleicht faszinierendste Ermittlungsgeschichte der jüngeren modernen US-Literatur.

Man hat "Cash" als Krimi klassifiziert, Kritiker haben ihn als Glanzstück des Genres gefeiert. Andere widersprechen und sagen: Das Verbrechen ist nur ein dramaturgischer Kniff, damit ein Erzähler in die komplexen Strukturen der Stadt eintauchen kann. Beides ist richtig, das Buch kann sowohl als Krimi als auch als Gesellschaftsroman gelesen werden, wobei von Anfang fest steht, wer der Täter ist. Wir haben es also nicht mit einem "Whodunit" zu tun, sondern eher mit einem "Who understands it": Wer versteht eigentlich die komplexe Logik dieses Mordes, der nur ein letztes Symptom vielfältiger politischer, kultureller und persönlicher Brüche ist?

Price, in den USA ein gefeierter Romancier und Drehbuchautor, hat bei der legendären TV-Serie "The Wire" mit geschrieben. Die Reihe fächert das Organisierte Verbrechen in einer fünf Staffeln umfassenden minutiösen Darstellungsarbeit auf. Weil oft gesagt wird, diese Art des Serienfernsehens ersetze den Roman, kann man bei der Lektüre von "Cash" das Umgekehrte behaupten: Der Text folgt der Logik der Serie, indem er Figuren durch einen Parcours der Konflikte schleust, langsam und in kleinen Zeitschritten - ein zwar konzise verklammertes, aber doch episodisch ausuferndes Bebildern von Lebensgeschichten.

Am Ende weiß man viel über den Defätismus großstädtischer Polizisten. Vor allem aber ist man eingetaucht in das Denken der unterschiedlichsten Charaktere: des einsamen Cops Matty; des von Schuldgefühlen zerfressenen Billy, dem Vater des Opfers; der afroamerikanischen Jugendlichen Tristan und Dap King, für die Gewalt scheinbar nur eine Geste ist, ein drastischer Kommentar zur täglich sich verschärfenden Aussichtslosigkeit.

Natürlich ist "Cash" eine Kritik der Gentrifizierung. Vor allem aber ist der Roman eine Besichtigung des modernen Menschen im Labor der Großstadt. Und weil es New York ist, sind wir alle gemeint.

Besprochen von Daniel Haas

Richard Price: Cash
Aus dem Amerikanischen von Miriam Mandelkow
S. Fischer Verlag, Frankfurt 2010
528 Seiten, 19,95 Euro