Meine Villa am Chiemsee

Zweiter Frühling mit der Jugendliebe

Eine Frau steht auf einem Steg am Chiemsee.
Eine Frau steht auf einem Steg am Chiemsee. © Imago/Photocase
Von Ruth Rach · 21.04.2018
Der Frühling treibt nicht nur in der Natur Blüten – er wirkt auch auf das Gemüt. Ein bisschen Sonne, ein bisschen Grün und schon kommen die verrücktesten Ideen. Unsere Autorin hat ihre Jugendliebe gesucht und gefunden – knapp 50 Jahre später.
Fast wären wir durch Waldeck durchgefahren. Ich war nur auf Kurzbesuch in Deutschland und hatte nicht unbedingt das Bedürfnis, an meine frühe Schulzeit erinnert zu werden. Ein eher dunkles Kapitel, schüchtern, stumm, und ausgegrenzt. Aber dann kamen wir zufällig am Gasthaus seiner Eltern vorbei. Und bevor ich es wusste, war ich durch die Tür und fragte nach Valentin.
Valentin, der Schwarm meiner Kindheit. Funkelgrüne Augen, schokobraunes Haar. Ein Spitzbub, den ich aus der Ferne anhimmelte. Und nur aus der Ferne. Verstohlene Blicke auf dem Schulhof. Verwegene Fantasien wenn ich in mein Tagebuch schrieb. Herzstillstand, als er einmal im Kino zufällig vor mir saß. Mit elf Jahren verloren wir uns aus den Augen. Er kam ins Internat, ich zog in die Großstadt.
Aber jetzt war ich mutig. Ja, übermütig. Es war Frühling, die Vögel zwitscherten, und mein Herz machte einen kleinen Sprung. Die grünen Fensterläden, die schmucke Fassade….
Was wenn er jetzt gleich durch die Tür kommen würde? Würde er mich überhaupt erkennen. Unsinn. Natürlich würden wir uns erkennen. Wir würden uns endlich in die Augen schauen. Aber nein. Vielleicht würde ich ja von seiner Frau bedient werden. Oder von seiner Freundin….

Die Macht des Schicksals hat eine Überschrift

Die Frau an der Theke schüttelte den Kopf. Nein, Valentin habe den Gasthof gar nicht übernommen. Er sei weg gezogen. An den Chiemsee. Aber er komme immer mal wieder auf Besuch, so alle paar Jahre. Tja, dann grüßen sie ihn mal schön von der Ruth, sagte ich betont beiläufig, und zog ab.
Fast ein Jahr später bekam ich die erste Message. Sehr höflich, sehr distanziert. Ob ich vielleicht die Ruth sei von damals? Valentin hatte meine Email-Adresse ausfindig gemacht und wollte sich mit mir treffen. Und ich glaubte plötzlich ganz fest an die Macht des Schicksals. An ein neues Kapitel. Mit der Überschrift: Valentin.
Im Frühjahr dann, endlich das Wiedersehen. Valentin hatte mich zum Segeln am Chiemsee eingeladen. Am Bahnhof, ein Herr mit Glatze. Superedel gekleidet. Schlank. Fit. Und mit strahlend blauen Augen. Was! Blaue Augen? Hatte ich mir die blitzgrünen etwa nur eingebildet? Valentin war Banker geworden. Er besaß eine Villa am See. Eine Segelyacht, und einen dicken Sportwagen.

Glück leben mit Sonnenuntergängen am Chiemsee?

Du hast dich überhaupt nicht verändert, sagt er gallant, als wir auf seinem Boot über die Wellen gleiten. Berge. Kuhglocken. Alpensee. Die perfekte Kulisse für einen Kitschroman. Mit dem dazu passenden Dialog: seine Schulfreunde hätten mich glühend verehrt. Allen voran, er, der Valentin.
Für den Bruchteil einer Sekunde blitzt vor meinem inneren Auge ein alternatives Leben auf. Wir, die childhood sweethearts, endlich vereint. Die Villa am Chiemsee. Die Sonnenuntergänge. Und so lebten sie glücklich bis an ihr Ende..
Gleichzeitig das ätzende Gefühl: ich bin im falschen Film. Wir sprechen eine andere Sprache. Gebrochene Erinnerungen haben in seiner heilen Welt keinen Platz. Je mehr gemeinsame Erlebnisse wir finden, desto tiefer wird die Kluft.
Am späten Nachmittag sitzen wir uns im Restaurant am See gegenüber. Es ist Frühjahr, die Vögel zwitschern, und ich fühle mich ein bißchen seekrank, und fast so stumm und sprachlos wie damals.
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