"Meine Skizzenbücher sind oft wie Tagebücher"

Von Julia Smilga · 27.04.2012
Sarah Nemtsov komponiert, seitdem sie acht Jahre alt war. Heute ist die 32-Jährige eine der führenden zeitgenössischen deutschen Komponistinnen. Viele ihrer Werke haben eine jüdische Thematik - wie die Oper "L'Absence", die am 3. Mai bei der Münchener Biennale uraufgeführt wird.
"Alles, was meine Identität ausmacht, meine Person - das kann ich nicht vom Komponieren trennen. Leute sprechen mich an: 'Sie haben so oft literarische Bezüge, wie kommt es?' Ich lese halt gerne, und dann fließt es ein. Meine Skizzenbücher sind oft wie Tagebücher, man könnte viele böse Akkorde erklären - ich kann es nicht trennen."
Sie schwankte lange zwischen einer Solokarriere als Oboistin und der Komposition. 1980 in Oldenburg geboren, hat Sarah Nemtsov beides an der Hochschule für Musik und Theater Hannover studiert. Erst vor sieben Jahren entschied sie sich endgültig für das Komponieren. Sarah Nemtsovs Werke zeigen eine Komponistin, die eine intensive Emotionalität sowohl in feingearbeiteter Kammermusik als auch in Bühnenwerken ausdrücken kann. Ihre Musik ist häufig von der Auseinandersetzung mit Literatur und der Shoah geprägt. Nemtsovs erste Oper "Herzland" ist dem tragischen Schicksal des jüdischen Dichters Paul Celan gewidmet. Holocaust ist für Sarah kein Fremdwort: Sie stammt aus einer deutsch- jüdischen Familie; ihre Vorfahren waren noch rechtzeitig aus Nazi-Deutschland nach Südamerika geflüchtet. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs kehrte Sarahs Mutter nach Deutschland zurück. Das Wiederentstehen des jüdischen Lebens in ihrer Heimatstadt Oldenburg hat Sarah hautnah miterlebt:

"Ich hatte meinen Ausweis gehabt und da war ich Mitglied Nummer 10 - als Kind! Und ich war die erste Bat Mitzwa nach der Shoah in dieser Stadt. Es war auch eine vollkommen zersplitterte Gemeinde, versprengt aus allen Ecken kommend - da waren welche aus Israel, da waren auch noch Überlebende aus Oldenburg, alte Menschen... Eine Frau Seligman, mittlerweile ist sie tot, sie war Oldenburgerin und am 9. November 1938 wurde ihr Mann weggenommen, den sie gerade geheiratet hat. Und es gab diesen Erinnerungsmarsch, weil diese jüdischen Männer damals durch die Stadt geführt wurden in Oldenburg, abgeführt zum Gefängnis und dann weiter in KZ verbracht, und es gab diese Tradition der Erinnerung, dass die Gesellschaft diesen Weg beschritt. Und ich bin mehrmals mit ihr gegangen. Sie hat nie wieder geheiratet, sie hatte noch Dinge aus der Synagoge, die zerstört wurde, die abgebrannt war - das war sehr berührend. Und das ist im Herzen, das bedeutet mir sehr viel."

Auch ihr neues Werk- die abendfüllende Oper "L'Absence" - " Abwesenheit" spielt auf die tragische Vergangenheit an. Als literarische Vorlage diente der Komponistin das "Buch der Fragen" des 1912 in Kairo geborenen und 1956 als Jude nach Frankreich vertriebenen Autors Edmond Jabès. Das "Buch der Fragen" erzählt die Liebesgeschichte von Sarah und Yukel. Sarah wurde mit ihren Eltern in ein Vernichtungslager deportiert. Ihre Eltern wurden ermordet, sie überlebte, wurde aber verrückt. Yukel, der ebenfalls überlebte, sucht Sarah - örtlich, physisch, vor allem aber als den Menschen, den er einmal kannte und dem seine Liebe galt. Dieser Mensch ist nicht mehr.

"Und das ist es, worum es geht - Sarah ist noch physisch anwesend, aber irgendwie in ihrer Seele verborgen, man kann sie nicht mehr erreichen. Eigentlich findet er sie nicht, und das ist das Tragische. Aber es gibt Momente von ihr, von ihm, Erinnerungen auch, wo es an den Anfang der Geschichte, wie sie sich kennengelernt haben, erinnert wird, es gibt Traumbilder, die in die Vergangenheit gehen. Es gibt aber keine Handlung in dem Sinne, eine Linearität, dass die Geschichte von A bis Z erzählt werde, weil das hat mich auch so fasziniert bei Jabes - wo ist die Wahrheit? Die Wahrheit ist nicht in den Fakten, die man so runterrattern kann, sondern die Wahrheit liegt in ganz anderen Dingen verborgen , in einer gewisse Zerrissenheit der Wirklichkeit und das hat mich sehr fasziniert, es war sehr wahr oder wahrhaftig."

Für die Oper "L'Absence" hat Sarah Nemstov ein eigenes harmonisches System erfunden, basierend auf alten jüdischen Kantilationen - den Gesängen der Synagogen-Gottesdienste. Daraus hat sie eigene Tonskalen geschaffen und sie in ihre sehr moderne Musiksprache miteinbezogen. Diese Verflechtung von Tradition und Moderne ist für Sarah etwas ganz Selbstverständliches, in der Kunst so wie in ihrem Leben in Berlin. Sarah lebt bewusst jüdisch- sie achtet die Grundregeln der koscheren Küche und hält sich an jüdische Feiertage, so erzieht sie auch ihre beiden kleinen Kinder. Und alle Ereignisse ihres Lebens fließen tagebuchartig in ihre Musik ein.

"Ich kann nicht anders, ich brauche das Komponieren. Es geht mir einfach besser, wenn ich komponiere. Ich bin dann eine bessere Mutter, ich muss das rauslassen, ich brauche das, ich kann nicht anders. Gleichzeitig ist es so, dass es Handwerk ist, und ich habe Aufträge, as erfordert Disziplin, aber ich arbeite gerne. ich stehe früh auf, noch bevor die Kinder wach sind, arbeite dann, ich brauch das und such das und ich kämpfe mit mir, ich brauche diesen Kampf dauernd, bin unzufrieden, schreibe dann tagebuchartig in meine Skizzenbücher rein und ärgere mich über mich selber - nicht nur, aber auch... So entsteht es in diesem Widersteht vom Glück und Ärger( lacht) ich weiß nicht - es macht mich ja glücklich, zu arbeiten..."
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