"Mein Ratschlag ist immer, sich eine zweite Meinung einzuholen"

Jörg Blech im Gespräch mit Liane von Billerbeck · 21.04.2010
Nach Einschätzung des Medizinjournalisten Jörg Blech werden ärztliche Leistungen immer häufiger vom Geld statt von medizinischen Notwendigkeiten bestimmt. Ärzte stünden beispielsweise "unter dem Druck, dass das Krankenhaus gut ausgelastet ist", sagte Blech anlässlich des Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie.
Liane von Billerbeck: Immer häufiger werden ärztliche Leistungen vom Geld statt von medizinischen Notwendigkeiten bestimmt. Das heißt, der Arzt gerät in die Rolle des Kaufmanns, das Krankenhaus wird zum Marktplatz. Das sagen die deutschen Chirurgen. Sie diskutieren deshalb derzeit in Berlin über die Kommerzialisierung in der Medizin.

Die könnte für uns alle Folgen haben, wenn das Geld, das mit teuren und teils unnötigen OPs zum Fenster herausgeworfen wird, nämlich anderen Kranken fehlt. Das Krankenhaus als Marktplatz, mein Thema im Gespräch mit Jörg Blech, Medizinjournalist beim "Spiegel", der ist beim Chirurgenkongress dabei, und mit ihm haben wir vor unserer Sendung gesprochen. Ich grüße Sie!

Jörg Blech: Schönen guten Tag!

von Billerbeck: Der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie, Professor Reiner Gradinger, der hat in einem Beitrag zum Kongress von finanziellen Anreizen gesprochen, die dazu führten, dass immer mehr Eingriffe aus kommerziellen Gründen vorgenommen werden. Welche Anreize sind das?

Blech: Ja, das ist interessant, dass das Thema jetzt aufkommt – das gibt es schon seit Längerem –, das ist die sogenannte induzierte Nachfrage in der Medizin. Man sieht, sobald es ein Angebot gibt, dann wird auch eine Nachfrage geweckt, und dafür wird bezahlt. Ganz aktuelles Beispiel: der Kaiserschnitt. Die Weltgesundheitsorganisation sagt, eigentlich so in einer westlichen Gesellschaft sollte der Kaiserschnitt bei 15 Prozent liegen, dass 15 Prozent der Geburten Kaiserschnittgeburten sind, das ist so das medizinisch Angemessene. In Deutschland sind wir jetzt schon über 20 Prozent.

Und das kommt daher, weil die Krankenhäuser um die Frauen buhlen – es gibt ja auch immer weniger Babys. Also bietet man an, wenn ihr zu uns in den Kreißsaal kommt, dann machen wir auch mit euch den Kaiserschnitt. Und das ist lukrativ. Einerseits hat die Klinik die Auslastung, auf der anderen Seite kann man den Kaiserschnitt gut abrechnen.

von Billerbeck: Kommt es eigentlich auch tatsächlich vor, dass Krankheiten von Ärzten erfunden oder, sagen wir, aufgebauscht werden, um bestimmte Operationen durchführen zu können?

Blech: Ja, auch das kommt vor. Zum Beispiel die Wechseljahre des Mannes, da sagt man, wenn die Männer im gewissen Alter nicht mehr gut gelaunt sind, dann liegt es angeblich daran ...

von Billerbeck: Das sind die doch meistens nicht.

Blech: Ja, das kann aber an Umweltfaktoren liegen, zum Beispiel an der Beziehung, auch vielleicht Frust im Job, aber man reduziert es einfach darauf, dass man sagt, die Hormone gehen runter, und der Mann braucht jetzt von außen Hilfe.

Und genau in dem Moment, wo man ein neues Medikament hat, wird passend zu dem Medikament die neue Krankheit erfunden. Aber auch interessant ist, wenn man sich anschaut – wir reden ja auch über Operationen bei den Chirurgen –, dass man sich anschaut, Ärzte und deren Familien werden bei bestimmten Operationen seltener operiert als der Rest der Bevölkerung.

von Billerbeck: Denn Ärzte können ja auch Patienten werden. Lassen sie denn diese Operationen, die sie selber so gerne freimütig durchführen, auch an sich oder ihren Angehörigen machen?

Blech: Ja, das ist ja auch das Pikante und das Interessante, das ist nicht der Fall. Medizinforscher haben gesagt, der Arzt selber und wie er sich verhält, ist der Goldstandard. Die Experten wissen genau, was richtig ist, was angemessen ist und auch, was unnötig ist.

Und es gibt in der Tat einige Operationen, die werden bei Ärzten und den Arztfamilien seltener durchgeführt, zum Beispiel die Entfernung der Mandeln, Blinddarm, das Ausschaben der Gebärmutter, die Entfernung der Gebärmutter, Leistenbruchoperationen, Hämorrhoidenoperationen, die Entfernung der Gallenblase. Da hat man nachgesehen und wirklich entdeckt, Ärzte machen das bei sich und bei ihren Familienangehörigen viel seltener, als es beim Rest der Bevölkerung vorkommt.

von Billerbeck: Wenn ich also wissen will als Patient, ob eine Operation wirklich notwendig ist, dann sollte ich fragen: Würden Sie sich operieren lassen?

Blech: Genau. Also man sollte fragen: Lieber Herr Arzt oder liebe Ärztin, würden Sie das auch an sich selber machen lassen? Man weiß aber nicht ganz genau, ob man wirklich eine ganz redliche Antwort bekommt. Und mein Ratschlag ist immer, sich eine zweite Meinung einzuholen, und zwar bei einer Ärztin oder bei einem Arzt, der nicht operiert.

von Billerbeck: Nun ist Deutschland ja auch führend im Bereich der Herzchirurgie. Gibt es dort auch solche Operationen, von denen man sagen müsste, die sind eher überflüssig oder übertrieben?

Blech: Ein schönes Beispiel ist der Herzlaser. Vor einiger Zeit gab es einen richtigen Hype darum, und man hat gesagt, wenn man ins kranke Herz mit einem Laser kleine Löcher reinbrennt, dann wachsen diese Löcher wieder zu und dabei entstehen neue Gefäße und dadurch können wir dem Patienten helfen, dass wieder Blut durch das Herz fließen kann. Und dieser Herzlaser war wirklich groß in Mode.

Heute stehen die Geräte in vielen Kliniken nur noch im Keller herum, weil man die Geräte gar nicht so leicht entsorgen kann. Es hat sich nach vielen Jahren herausgestellt, dass dieser Herzlaser überhaupt nicht funktioniert, ist aber auch ein Paradebeispiel, wie es zu unnötigen Operationen kommen kann. Im ersten Schritt hat man etwas Neues, der neueste Schrei, das Wirkprinzip klingt plausibel, viele Krankenhäuser stürzen sich auf die neue Methode, und nach einigen Jahren kommt dabei heraus, es hat alles gar nichts gebracht. Gleichwohl bis heute gibt es private Kliniken, die diesen Herzlaser anbieten.

von Billerbeck: Hat es da, weil die Technik eben so fortgeschritten ist, auch unter den Ärzten, also jetzt konkret unter den Chirurgen, einen Mentalitätswandel gegeben, also ich mache das, was möglich ist?

Blech: Es gibt natürlich einen absoluten Kostendruck im Gesundheitssystem, und Ärzte haben natürlich die Möglichkeit, wirklich auch die Nachfrage zu steuern. Es gibt wirklich herrliche Arztbriefe, die haben wir im "Spiegel" veröffentlicht, wo es heißt: Die Klinik ist derzeit nicht gut ausgelastet, jeder Patient muss ab sofort einen Tag länger bleiben.

Da sehen Sie, ohne dass wir es merken, kann man uns sozusagen Medizin verschreiben, die wir gar nicht brauchen. Und ich glaube, Ärzte stehen schon unter dem Druck, dass das Krankenhaus gut ausgelastet ist. Paradebeispiel ist in der Tat auch die Herzmedizin. Es gibt ja Messplätze für Herzkatheter, und die müssen ausgelastet werden. Nur wenn die eine gewisse Anzahl von Patienten haben, sind die rentabel. Und dann ist natürlich, die Versuchung liegt sehr nahe dann, dass man sagt, gut wir machen jetzt noch heute eine Herzkatheteruntersuchung, um den Messplatz besser auszulasten, und wir können das abrechnen.

von Billerbeck: Jörg Blech, Medizinjournalist beim "Spiegel", über die zunehmende Kommerzialisierung der Medizin. Noch mal den Chirurg Professor Gradinger von der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie, der hat gesagt: Der ständige Druck – Sie haben den ja eben auch erwähnt – der ständige Druck beeinflusst die Entscheidungen der Ärzte ganz unbewusst, das ist gefährlich. Unsere nachfolgende Generation wächst mehr und mehr in diesem geistigen Klima auf, Controller entscheiden heute mit. Wie lässt sich das ändern, dass der Arzt wieder die Entscheidungshoheit über die Therapie hat und nicht eben der Finanzchef, der Controller der Klinik?

Blech: Also einerseits sind es ja immer die finanziellen Anreize, die die ärztliche Entscheidung mit beeinflussen, die muss man also verändern. Ich würde sagen, weg von so einer Hightechmedizin, auch das Gespräch des Arztes sollte besser honoriert werden. Wir haben ja oft heute den Fall, dass der Arzt nur abrechnen kann, wenn er eine Diagnose stellt, und wenn er dann eben auch eine Prozedur durchführt, die er abrechnen kann.

Es wäre besser, wenn er auch die Möglichkeit hätte zu sagen, ich habe mich heute länger mit einem Patienten unterhalten, wir sind übereingekommen, er ist gar nicht so krank oder er versucht es erst mal mit Bewegung, und dass man auch das abrechnen kann. Aber das ist die eine Seite, das ist die Struktur, das System.

Aber ich glaube, auch wir sozusagen als Patienten, wir sind auch gefragt. Ich finde, wenn man zum Arzt geht, kann es nie schaden, eine gesunde Skepsis mitzubringen, und bevor man sich operieren lässt, sollte man in der Tat immer auch noch eine zweite Meinung bei einer Ärztin oder einem Arzt einholen, die jetzt selber nicht operieren.

von Billerbeck: Noch mal nach dieser Strukturveränderung nachgefragt: Solche Lösungen, also weg von einer reinen apparatemäßigen Medizin hin zu einer eher gesprächsorientierten, gilt das dann auch für die Chirurgie? Die sind ja nicht umsonst Chirurgen geworden und nicht Psychologen.

Blech: Ja, die Chirurgen operieren ja eigentlich nur das, was an Sie weitergereicht wird. Die Diagnosen vorher werden ja andernorts gestellt, und wenn wir über überflüssige Therapien und Prozeduren reden, sind es ja auch oft oder eigentlich immer Operationen, bei denen es nicht um Leben und Tod geht. Und da wird im Vorfeld ja schon entschieden, soll etwas operiert werden oder nicht.

Und ich denke, da sollten sich die Strukturen ändern. Tatsache ist, die Frage, wie oft jemand operiert wird, entscheidet sich auch daran einfach, wo er wohnt. Man sieht Unterschiede. Es gibt gewisse Operationen, die werden zum Beispiel in Deutschland häufiger durchgeführt als in der Schweiz und umgekehrt – in der Schweiz wird doppelt so oft die Gebärmutter entfernt wie in Frankreich. Also es gibt zwischen den westlichen Ländern große Unterschiede, und die lassen sich alle auf strukturelle Unterschiede und nicht auf medizinische Besonderheiten zurückführen.

von Billerbeck: Es gibt ja auch den Fall, dass bestimmte Kliniken Patienten in ein anderes Krankenhaus transportieren, ganz einfach, weil sie eine Erkrankung haben, die ihnen zu teuer ist, um es mal auf den Punkt zu bringen – das kann ja für den Patienten auch ein Risiko sein. Darauf hat nämlich der Chirurgie-Gesellschaftschef Professor Gradinger auch hingewiesen, dass er das noch nie gemacht habe, aber das käme doch häufig vor.

Blech: Ja, die Gefahr ist einerseits, dass man einen Verschiebebahnhof hat, dass man jetzt nicht lukrative Patienten versucht abzuschieben, und auf der anderen Seite versucht, an Patienten heranzukommen, bei denen man Prozeduren durchführen kann, die man gut abrechnen kann.

Und das führt dann zu einem unerfreulichen Medizintourismus, dass die Leute hin und her geschoben werden. Auch da zeigt sich wieder, die Strukturen bestimmen letztendlich die Nachfrage. Interessant ist auch, dass Orthopäden für sich selber entscheiden. 83 Prozent der Orthopäden sagen, meinen Rücken – bei Bandscheibenproblemen –, den würde ich nicht operieren lassen. Zugleich haben wir aber auch viele Privatkliniken, die immer neue Methoden anbieten, endoskopisch angeblich sanfte Methoden, und die wirklich auf Patientenfang gehen. Und da muss man eben auch sehr vorsichtig sein, dass gerade im privaten Sektor die Medizin ja auf Profit aus ist und oft gerade im Bereich der Rückenmedizin Dinge angeboten werden, die wirklich keinen richtigen Nutzen haben.

von Billerbeck: Frage zum Schluss, Herr Blech: Welche Rolle spielt denn der Patient oder die Patientin, die zum Arzt geht und sagt, bringen Sie das in Ordnung? Ist da der Patient nicht auch mit Schuld, dass er nicht nach anderen Therapien sucht als so die schnelle Lösung durch die Operation oder die vermeintlich schnelle Lösung durch die Operation?

Blech: Es ist in der Tat so - das hat mir ein Arzt aus Leipzig erzählt –, dass er Herzpatienten hat oder auch Menschen, die praktisch Raucherbeine haben, und sagt, wenn Sie jetzt sofort anfangen, sich körperlich zu bewegen, dass wir so eine richtige Gehkur mit Ihnen machen, dann sorgen Sie selber dafür, dass in Ihrem Körper neue Gefäße nachwachsen und dass Sie Ihre Krankheit weitgehend lindern, vielleicht sogar kurieren können.

Aber oft sagen die Patienten, ich habe da überhaupt keine Lust zu, können Sie mir nicht einen Herzkatheter machen, können Sie mir nicht eine schnelle Linderung bringen. Das ist also in der Tat verbreitet. Ich kann einfach nur sagen, viele Operationen bringen nichts, und man sollte nicht vorschnell auf eine Operation schielen, sondern sich eine Ärztin oder einen Arzt suchen, der einen auch dahingehend berät, dass man vielleicht eine andere Lösung findet für sein Gesundheitsproblem.

von Billerbeck: Jörg Blech, Medizinjournalist beim "Spiegel", über die zunehmende Kommerzialisierung der Medizin, die derzeit auch Thema ist beim Kongress der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie in Berlin. Herzlichen Dank!

Blech: Danke Ihnen!