Mein Hirn gehört mir

15.01.2013
Seitdem Mediziner sichtbar machen können, was im Gehirn geschieht, hat die Hirnforschung einen ungeheuren Boom erlebt. Die Bilder aus dem Kopf erscheinen als perfektes Werkzeug, um unser Denkvermögen zu erklären und psychische Störungen zu behandeln. Eine gefährliche Illusion, warnt der Pharmakologe Felix Hasler.
Innerhalb weniger Jahre ist die Hirnforschung von einem entlegenen Spezialfach zur ersten Adresse für die ganz großen Fragen geworden. Prominente Neuro-Wissenschaftler wie Wolf Singer oder Gerhard Roth äußern sich zu Problemen der Moral, Philosophie und Rechtsprechung. Der Amerikaner Zack Lynch, Gründer eines Wirtschaftsverbandes für angewandte Hirnforschung, prophezeit für unseren Eintritt in die "Neuro-Gesellschaft" gleich die "Geburt einer neuen Zivilisation".

Felix Hasler zeigt in seinem Buch "Neuromythologie", dass solche überzogenen Ansprüche vor allem auf Bildern beruhen, die den Eindruck erwecken, man könne dem Gehirn bei der Arbeit zusehen. Längst schmücken sich auch Ökonomen, Marketingleute, Sozial- und Kulturwissenschaftler gern mit der Vorsilbe "Neuro-" und illustrieren ihre Thesen durch Fleckenmuster, die Aktivität in diesem oder jenem Hirn-Areal anzeigen sollen.

Dabei bildet ein "Hirn-Scan" der funktionellen Magnetresonanz-Tomografie (MRT) nicht etwa das ab, was zu einem bestimmten Zeitpunkt in einem einzelnen Gehirn geschieht, sondern er ist Bild gewordene Statistik: Ergebnis einer komplizierten Auswertung von Daten, die aus der Messung von Blutfluss und Sauerstoff-Verbrauch in den Gehirnen vieler Probanden hervorgehen.

Hasler zeigt Punkt für Punkt, wie viele Unsicherheitsfaktoren in der Herstellung dieser Bilder stecken: Viele Messgeräte und das Blut im Gehirn selbst sind langsamer als die Nerven-Aktivität, die man erfassen will. Das "Grundrauschen" im Gehirn macht Messungen ohnehin schwierig. Die Aktivität eines Areals kann mit erhöhter Durchblutung einhergehen, aber es gibt auch Gegenbeispiele. Dass anspruchsvolle geistige Vorgänge überhaupt einzelnen Hirnregionen zugeordnet werden können, gilt heute weithin als überholt.

Diese Bildkritik ist keine Debatte im luftleeren Raum. Im zentralen Kapitel seines Buches beschreibt Hasler den fundamentalen Kurswechsel, den die Psychiatrie durch das Aufkommen der Psychopharmaka in den letzten fünfzig Jahren genommen hat. Anfangs noch als "Hilfsmittel für die Psychotherapie" angepriesen, haben Medikamente längst die Vorherrschaft übernommen, und ihre Hersteller profitieren enorm von einem Menschenbild, das die Lösung für alle psychischen Probleme im Gehirn sucht.

Felix Hasler, selbst Pharmakologe und zurzeit Forschungsassistent an der "Berlin School of Mind and Brain", übt scharfe Kritik am immensen Einfluss der Pharma-Industrie auf Wissenschaft und Medizin und zeigt, welchen Schaden weit verbreitete Medikamente anrichten, deren Nebenwirkungen wissenschaftlich durchweg besser belegt sind als ihr Nutzen. Sein elegant und verständlich geschriebenes Buch ist ein sehr lesenswertes Plädoyer für mehr Skepsis gegenüber dem "Neuro-Boom".

Besprochen von Frank Kaspar

Felix Hasler: "Neuromythologie: Eine Streitschrift gegen die Deutungsmacht der Hirnforschung"
Transcript Bielefeld, Bielefeld 2012
260 Seiten, 22,80 Euro