Mehr Loriot als Thomas Mann

05.10.2010
Mit "Was davor geschah" schreibt Büchnerpreisträger Martin Mosebach weniger einen Gesellschaftsroman als den Roman einer Parallelgesellschaft. Die Rezensenten überschlagen sich mit Lobeshymnen.
Mit Martin Mosebach ist es eine verblüffende Geschichte. Vor zehn Jahren war dieser Frankfurter Autor noch relativ unbekannt und irrte unstet durch die Verlagshäuser. Doch binnen kurzer Zeit wurde er der absolute Liebling des Hochfeuilletons. Eine negative Zeile über den Autor Mosebach ist schlechthin nicht mehr vorstellbar, der Büchnerpreis 2007 war die logische Folge. Auch bei seinem jüngsten Roman überschlagen sich die Rezensenten: nahezu ganzseitige Lobeshymnen unisono in FAZ, Zeit und SZ, und einig sind sich alle in der Formulierung: Hier haben wir den großen zeitgenössischen Gesellschaftsromancier – elegant, scharfzüngig, ein Sprachkünstler.

Man nähert sich dem Rätsel vermutlich, wenn man genauer betrachtet, um welche Art von Gesellschaft es sich hier handelt. Es geht um die sogenannte "bessere Gesellschaft", um Regionen, in denen Probleme des Geldverdienens generell unbekannt sind. Bei Rosemarie, einer alterlos durchtrainierten, offensiv geschminkten Großerbin und Großvillenbesitzerin im Taunus, wird das überdeutlich: "'zehntausend Euro, das ist viel Geld!', wie Rosemarie ausgerufen hätte, wenn von kleineren Summen die Rede war". Rosemarie und ihr Mann Bernward, führen eine repräsentative Vorzeigeehe, aber natürlich: Die Ehe zerbricht, die bürgerliche Fassade bröckelt. Und klar:Das ist der dem Bürgertum eingeschriebene Niedergang an sich, das klassische Thomas-Mann-Schema.

Dass ein 80-jähriger Großpolitiker und selbstgefälliger Salonredner ausgerechnet "Schmidt-Flex" heißt, ist Programm. Mosebach hält sich mit den Abgründen, die im bürgerlichen Großroman durchaus differenziert ausgemessen werden können, nicht allzulange auf, seine Figuren gehen über Karikaturen kaum hinaus. Diese sind allerdings nicht kritisch gemeint, sondern eminent augenzwinkernd. Silvi ist nichts weiter als der übliche Blondinenwitz – scharf, aber dumm, ihr Mann Hans-Jörg ein blasses, verklemmtes Söhnchen unter der Fuchtel des eindrucksvollen Vaters, Rosemarie eine neureiche Geschmacksverirrung. Auf Einrichtungsgegenstände wird eh größter Wert gelegt. Dabei ist der Übergang zwischen geschliffenen Formulierungen und gespreiztem, etwas prätenziösem Zurschaustellen altadeligen Stils fließend. Vor allem die als lustig aufgemachten Szenen – der Kampf gegen die Fliegen in einem sizilianischen Gästezimmer, der Versuch, selber mal eine Mayonnaise herzustellen, oder die Machenschaften des Freiherrn von Sláwina (lies: "Schlawiner") – sie lassen im Lauf der Lektüre die Erkenntnis reifen: Das ist weder Thomas Mann noch Doderer. Das ist viel näher an Loriot.
Mosebach schreibt also weniger einen Gesellschaftsroman, sondern den Roman einer Parallelgesellschaft. Und womöglich ist genau dies die geheime Sehnsucht des Feuilletons. Künftige Kulturärchäologen werden angesichts unserer Gegenwart sicherlich nachdenklich die Köpfe schütteln.

Besprochen von Helmut Böttiger

Martin Mosebach: Was davor geschah
Roman. Hanser Verlag, München 2010
329 Seiten, 21,90 Euro
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