Medienwissenschaftler Bernd Gäbler

Das System der Massenmedien hat ausgedient

Mann mit Smartphone
Medienwissenschaftler Bernd Gäbler warnt davor, allein die Existenz der sozialen Medien für den Sieg von Donald Trump verantwortlich zu machen. © picture alliance / dpa / Foto: Oliver Berg
Moderation: Gerhard Schröder · 17.12.2016
Hat Donald Trump die US-Wahlen nur dank Twitter und Facebook gewonnen? Öffnen die Internetkonzerne gezielter Desinformation Tür und Tor? Hat investigativer Journalismus eine Zukunft? Medienwissenschaftler Bernd Gäbler spricht über den Einfluss sozialer Medien auf den Journalismus.
"Das System der Massenmedien, wie wir es kennen, hört auf zu existieren", sagt der Medienwissenschaftler Bernd Gäbler. In der Sendung "Tacheles" spricht er über Journalismus im Zeitalter der sozialen Medien.
Hat Donald Trump die Präsidentschaftswahlen in den USA nur dank Twitter und Facebook gewonnen? Sind die sozialen Medien Schuld, dass Großbritannien aus der EU austritt? Verwischen im digitalen Zeitalter die Unterschiede zwischen Wahrheit und Lüge? Öffnen die großen Internetkonzerne gezielter Desinformation und Falschmeldungen Tür und Tor? Und warum wächst das Misstrauen gegenüber den etablierten Medien? Welche Zukunft hat aufklärerischer Journalismus noch?
Bernd Gäbler, 1953 in Velbert geboren, hat Geschichte und Germanistik studiert, war Geschäftsführer des renommierten Adolf-Grimme-Instituts und lehrt seit 2013 Journalistik an der Fachhochschule des Mittelstands in Bielefeld.
Bernd Gäbler, deutscher Journalist und Autor von Medienthemen, ehemaliger Geschäftsführer des Adolf-Grimme-Instituts
Bernd Gäbler, deutscher Journalist und Autor von Medienthemen, ehemaliger Geschäftsführer des Adolf-Grimme-Instituts© picture alliance/dpa - Erwin Elsner

Das gesamte Gespräch im Wortlaut:
Deutschlandradio Kultur: "Postfaktisch", das ist das Wort des Jahres 2016, ein Kunstwort, so heißt es in der Begründung der Gesellschaft für deutsche Sprache, das darauf verweist, dass ein Teil der Bevölkerung bereit ist, Tatsachen zu ignorieren und offensichtliche Lügen zu akzeptieren.
Im amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf im November war das ebenso zu besichtigen wie in der Brexit-Kampagne in Großbritannien in diesem Jahr.
Auf der anderen Seite erleben wir ein zunehmendes Misstrauen gegenüber den etablierten Medien. Rechtspopulisten sprechen von Lügenpresse, während auf Facebook und Twitter Falschmeldungen auf fruchtbaren Boden fallen. Die Medien also im postfaktischen Zeitalter – wie umgehen mit gezielter Desinformation und wachsendem Misstrauen auch gegenüber den öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten?
Darüber wollen wir heute reden in "Tacheles". Unser Gast ist Bernd Gäbler, langjähriger Geschäftsführer des Adolf-Grimme-Instituts, Medienwissenschaftler und Professor für Journalistik an der Fachhochschule des Mittelstands in Bielefeld. – Guten Tag, Herr Gäbler.
Bernd Gäbler: Ja, hallo, Herr Schröder.
Deutschlandradio Kultur: Herr Gäbler, hat 2016 also das postfaktische Zeitalter begonnen, das Zeitalter, in dem die Unterscheidung zwischen Wahrheit und Lüge, zwischen richtig und falsch nicht mehr so wichtig ist?
Bernd Gäbler: Ich will nicht leugnen, dass da was Neues passiert ist, aber will doch mit einem kleinen Aperҫu antworten. Ich kann es dann näher erläutern. Ich glaube, dass die Tatsache, dass wir in einer postfaktischen Ära leben, im Großen und Ganzen auch nur so ein Gefühl ist.
Deutschlandradio Kultur: Aber viele Aussagen, wenn wir jetzt in die USA blicken, von Donald Trump, dem gewählten Präsidenten, die waren falsch. Trotzdem ist er gewählt worden. Also, da ist doch was Neues. Das hat es vorher nicht so gegeben.
Bernd Gäbler: Ich leugne nicht, dass da was Neues ist. Das muss man im Einzelnen ganz genau beobachten. Ich glaube, es gibt politische, soziale und auch mediale Gründe. Aber die Grundtatsache, dass etwa bis gestern so gewesen sei, alle Menschen richten sich in ihrer Kommunikation nach den Fakten und ab heute ist es so, die Emotionen dominieren, das halte ich für völligen Quatsch.

"Fakten lassen sich ja selten in einem nackten Zustand erwischen"

Also, glauben Sie wirklich, Willy Brandt hätte 1972 seinen riesigen Wahlsieg errungen, weil alle Menschen den Fakten geglaubt haben und da wären keine Emotionen im Spiel gewesen? Oder bei den großen Äußerungen der Friedensbewegung Anfang der 80er-Jahre waren natürlich Emotionen im Spiel. Und es ist immer ein Verhältnis von Fakten und Meinungen. Fakten lassen sich ja selten in einem nackten Zustand erwischen. Und darum gibt es Meinungsstreit. Und meistens ist es so, dass man die Argumente der eigenen Seite für Fakten hält und die auf der anderen Seite nicht für Fakten.
Ich glaube, dass in diesem Ausdruck, alles sei nun postfaktisch, doch auch eine politische Enttäuschung darüber mitschwingt, dass ganz viele Menschen so entschieden haben, wie man es nicht erwartet hat und wie man es auch nicht gerne sieht.
Deutschlandradio Kultur: Nun sagen einige, Donald Trump hat die Präsidentschaftswahlen vor allem gewonnen, weil er verstanden hat, wie Facebook und Twitter funktionieren, weil er verstanden hat, wie man die sozialen Medien als Propagandamaschine nutzen kann. – Ist denn da was dran?
Bernd Gäbler: Da ist was dran. Ich bin aber auch dafür, sehr genau zu gucken, was denn wie funktioniert. Wir dürfen nicht einem – ich nenne es mal – digitalem Mythos uns aussetzen. Der digitale Mythos würde lauten: Donald Trump hat gewonnen wegen der neuen Medien. Diese Medien sind Schuld und haben gewissermaßen die Entscheidungen der Wähler vorbestimmt.
Deutschlandradio Kultur: Ich will es präzisieren. Donald Trump hat gewonnen, weil er über Facebook und Twitter seine Lügen am besten verbreiten konnte.
Bernd Gäbler: Ja. Also, wie gesagt, Propaganda, Demagogie, so was gab es immer schon. Ich sage es nochmal zur Klarheit, damit klar ist, was ich meine, was falsch wäre: Falsch wäre die Aussage, die Litfasssäule ist Schuld am Aufstieg Hitlers. Da sind wir uns einig? Weil, das ist eine Technik, eine Medientechnik. Hier wird es auch so sein. Die Medientechnologie hat bestimmte Dinge beschleunigt, erhitzt, hat Wirkung gezeigt unbedingt. Aber wir müssen genau gucken, welche Wirkung.
Letztlich haben Wähler entschieden. Und sie haben immer noch selbst entschieden, sind nicht manipuliert worden. Es ist nicht unmittelbar in die Wahl manipulativ eingegriffen worden, sondern man hat Dinge gemacht, die können wir mal im Einzelnen untersuchen.
Also, zum Beispiel: Wenn gesagt wurde, ungefähr 900.000 mal gab es Likes für die Botschaft, der Papst würde Donald Trump unterstützen. Wie geht man damit um? Dann kann man sagen: Ja, die Leute, die das glauben wollten, haben das geglaubt. Aber jeder halbwegs informierte Mensch weiß natürlich, der Papst greift nicht in nationale Wahlen ein. Also wäre es zu dementieren. Aber in der sogenannten Filter Bubble beschleunigt sich natürlich diese Falschmeldung, hat einen Effekt auf die Gläubigen und bestimmte Beeinflusser-Influenza können dann sozusagen viele dieser Gläubigen tatsächlich von dieser Falschmeldung überzeugen.

Brexit nicht den Medien in die Schuhe schieben

Deutschlandradio Kultur: Herr Gäbler, blicken wir mal kurz nach Großbritannien. Dort gab es die Brexit-Kampagne. Eine zentrale Aussage dieser Kampagne, nämlich über die Vorteile eines Ausstiegs der Briten aus der EU und über die Kosten waren falsch. Trotzdem war diese Kampagne erfolgreich, obwohl auch diese Falschmeldung dementiert wurde. Aber ein Kraut war dagegen offenbar nicht gewachsen.
Bernd Gäbler: Nein, aber da gibt es relativ eindeutige politische Schuldige. Und das sind, wenn man es so sagen darf, die verwöhnten jungen Leute, die alle nach Meinungsumfragen in großer Mehrheit für den Verbleib in der EU waren, die auch Argumente dafür hatten, also, von Bildungsaustausch, von Arbeitsmarktbeziehungen und so weiter, die ein weltoffenes Großbritannien wollten. Aber die Leute sind nicht zur Wahl gegangen. Es gab eine absolut schlechte Wahlbeteiligung dieser jungen Leute, der Befürworter von Stay.
Also, das ist relativ eindeutig politisch auszumachen, wo die Leute waren, die es verschuldet haben. Das heißt, das mangelnde Engagement dieser jungen Leute kann man nicht hinterher gewissermaßen den Medien in die Schuhe schieben. Ich sage, Medien spielen eine Rolle, aber man muss genau gucken, welche.
Deutschlandradio Kultur: Dass soziale Medien gezielt auch für solche Falschmeldungen genutzt werden können…
Bernd Gäbler: Absolut. Es gab ja diesen wunderbaren Versuch von Jan Fleischhauer vom "Spiegel", der sich sozusagen, es hieß "Expedition in ein unbekanntes Land", der ist gar nicht gereist in ein Land, sondern hat das vom Schreibtisch aus gemacht und hat sich mit einem zusammengestoppelten Profil in den sozialen Netzwerken getummelt als ein Sympathisant, der irgendwie auch so krude Ideologeme von AfD, Pegida befürwortet, und wurde dann bombardiert mit allerlei Nachrichten und hat berichtet, dass da im Grunde genommen eine ganz eigene Welt, völlig abgekoppelt von den sonstigen Kommunikationssträngen entstanden ist. Das wird sicher begünstigt.
Also, wenn heutzutage Facebook der größte News-Aggregator weltweit ist, eine Infrastruktur, auf der gleichzeitig 80 Prozent der Sätze Ich-Sätze sind, wenn dort durch einzelne Influenza auch die Möglichkeit besteht, Minderheitenmeinungen als eine gigantische Mehrheit erscheinen zu lassen, wenn dann Journalisten nur an den Schreibtischen sitzen und Trending Topics von Facebook abschreiben, statt die Wirklichkeit zu untersuchen, dann hat das sicher Effekte.
Deutschlandradio Kultur: Bleiben wir aber nochmal bei gezielten Falschmeldungen. Wer ist dafür verantwortlich? Ist die Technik unschuldig? Also, sind die sozialen Medien unschuldig? Und sind die, die das dann lesen und für bare Münze nehmen, die Verantwortlichen, die Entscheidenden? Die Technik hat damit nichts zu tun?
Bernd Gäbler: Nein, ich sage nicht, dass die Technik gar nichts damit zu tun hat. Aber wir müssen gucken, was wir als was ansehen. Ich sage mal das Problem bei Facebook, Fake News bei Facebook:
Was ist Facebook für uns? Ist es eine Infrastruktur, über die Kommunikation betrieben wird? Ich glaube, dass es das in erster Linie ist. Und das ist nicht eine Ausrede dieser IT-Firmen ist, "wir sind nur eine Infrastruktur". Oder beachten wir und wollen wir, dass Facebook diese Verantwortung hat, dass Facebook gewissermaßen eine Schlussredaktion ist?

Facebook ist keine "Wahrheitskommission"

Ich bin der Meinung, dass Fragen, was ist richtig, was ist falsch, was ist gut, was ist böse, nicht durch Algorithmen zu klären sind, nicht durch Quantitäten zu klären sind. Ethische Entscheidungen werden selten richtig durch Quantitäten geklärt.
Wenn wir dann aber Facebook sagen, du musst das alles klären, dann würden wir eine privatwirtschaftlich organisierte, profitorientierte Firma beauftragen, eine für die gesamte Gesellschaft zuständige Wahrheitskommission einzurichten. – Das kann nicht sein!
Deutschlandradio Kultur: Aber muss Facebook nicht dafür sorgen, dass offensichtliche Falschmeldungen, vielleicht auch Hetze, vielleicht Beleidigungen entfernt werden?
Bernd Gäbler: Ja.
Deutschlandradio Kultur: Darf sich Facebook dahinter verstecken zu sagen, wir sind nicht die Urheber, wir haben damit nichts zu tun, wir sind nur quasi die Stellwand, wo man das aushängen darf?
Bernd Gäbler: Nein. Aber das Verhältnis von Fake News, also, was ist wahr, was ist falsch, ist ein ganz anderes als das von Hetze und anderem. Ich sage nochmal: Wir sind für Meinungsfreiheit. Das heißt, man muss viele Meinungen tolerieren, die nicht der eigenen entsprechen, auch Stilistiken, die nicht der eigenen entsprechen. Wenn also jemand sagt, "du kotzt mich an", ist das unschön, ist nicht unser Stil, aber es fällt unter Meinungsfreiheit.
Was Facebook sicherstellen muss und wo Facebook kooperieren muss, dass die Gesellschaft es sicherstellen kann, ist, dass Facebook kein rechtsfreier Raum ist. Und wenn dort Strafbares geäußert wird, Aufforderung zu Straftaten, Volksverhetzung und Ähnliches, dann sind sie in der Pflicht, dass erstens Strafverfolgung stattfinden kann und dass auch diese Dinge, wenn sie dann entsprechend beurteilt sind, gelöscht werden und Ähnliches.
Deutschlandradio Kultur: Gibt es da eine Rechtslücke?
Bernd Gäbler: Es gibt auf jeden Fall eine Lücke der Durchsetzung des Rechts. Sehen Sie, Frau Künast hatte ja gerade geklagt, weil unter ihrem Namen Falschmeldungen verbreitet wurden. Und das ist völlig offensichtlich. Und völlig offensichtlich ist, dass das auch was Strafbares ist. Da müssen Sie rauskriegen, wer ist die Quelle. Und Facebook muss überhaupt in der Lage sein, das, was dort dann meinetwegen an richterlichen Beschlüssen oder so vorliegt, in Empfang zu nehmen. Die sitzen in Irland und machen das oft gar nicht.
Also, ich glaube, dass hier die Durchsetzungslücke von Recht im Moment viel größer ist als ein neues Recht zu schaffen.
Deutschlandradio Kultur: Wie kann denn diese Lücke geschlossen werden?
Bernd Gäbler: Ja, indem einfach das Justizministerium wirklich, Herr Maas sich nicht nur zu freundlichem Kaffeetrinken mit Facebook trifft und sagt, wir haben eine Task Force und wir wollen da irgendwas verändern, sondern tatsächlich das, was behauptet wird, das ist kein rechtsfreier Raum, dass es durchgesetzt wird, das jetzige geltende Recht. Das heißt, Volksverhetzung hat dort keinen Platz. Strafbare Beleidigung hat dort keinen Platz und Ähnliches.
Das ist aber was ganz, ganz anderes, damit wir darüber klar sind, als Fake News. Weil, Fake News ist was anderes. Wer will das beurteilen? Ist die News, "ich sage, die Rente ist sicher", ist das Fake News oder nicht? Ist der Satz "Beckenbauer hat fünf Millionen Euro gekriegt für ein vermeintliches Ehrenamt"... Am Anfang haben sich alle dagegen gesträubt. Da hat die "BILD"-Zeitung erklärt, also der Sportchef der "BILD"-Zeitung, "ich lege meine Hand ins Feuer für diesen Beckenbauer, was eine Sauerei"usw.
Jetzt will Facebook etwas schaffen, das haben sie ja versprochen, dass sie sagen: Wenn eine neue Meldung kommt, die umstritten ist, wo nicht klar ist, ob es Wahrheit ist, wird die markiert. – Das kann man machen. Aber die Grundfrage ist: Wie kommt etwas Neues in die Welt? Fast alles, was neu ist, ist zunächst umstritten.
Deutschlandradio Kultur: Ein Kampf gegen Windmühlen.

"Facebook ist nicht eine gesamtgesellschaftliche Schlussredaktion"

Bernd Gäbler: Ja, natürlich. Und wir dürfen das nicht Facebook überlassen. Facebook ist nicht eine gesamtgesellschaftliche Schlussredaktion. Facebook hat eine Infrastruktur für Kommunikation zur Verfügung zu stellen. Es darf auch unbedingt Watch Blogs aller Art geben, die also alle möglichen Kampagnen, Falschmeldungen usw. bekämpfen. Das ist alles richtig. Aber wir können nicht an Facebook herangehen mit demselben Anspruch, wie wir ihn, was weiß ich, an eine redaktionell geführte journalistische Einheit haben, also, die Tagesschau, die "FAZ" oder irgendeine Zeitung. Sie ist keine Schlussredaktion. Und wenn wir das wollten, würden wir auf gefährliches Terrain kommen.
Deutschlandradio Kultur: Aber wenn Facebook jetzt selber sagt, ja, wir fühlen uns da in der Verantwortung, wir wollen dafür sorgen, dass diese Meldungen überprüft werden, und wir wollen mit anderen, mit Agenturen, mit Redaktionen zusammenarbeiten, die dann entscheiden, ja, das ist ein strittiger Text, eine strittige Behauptung, die markieren wir. Und dann hat das auch Folgen für Anzeigen, die gesetzt werden können. – Ist das mehr Alibi oder ist das eine realistische Handhabe?
Bernd Gäbler: Nein, so eine Markierung kann ein Hinweis sein. Ich will nicht sagen, dass es nur Alibi ist. Aber eins ist völlig klar unter uns Menschen, in der menschlichen Kommunikation: Was wahr ist und was falsch ist, was gut ist und was böse ist, dürfen nie und nimmer Algorithmen für uns entscheiden und dürfen nie und nimmer einfach Quantitäten für uns entscheiden. Da ist jeder in der Verantwortung.
Und die Lösung kann nur sein, nicht das komische Wort Medienkompetenz, sondern ich nenne es Bildung. Wir selber müssen uns auseinandersetzen, kontroverse Meinungen anhören, darum ist Pluralismus so wichtig, und uns dann Meinungen bilden. Dessen wird uns niemand entheben und erst recht kein Facebook-Algorithmus.
Deutschlandradio Kultur: Herr Gäbler, Sie haben das Stichwort genannt. Bildung ist wichtig. Man könnte auch sagen, Aufklärung ist wichtig, Qualitätsjournalismus. Wenn wir also darüber reden, dass Falschmeldungen kursieren, dass mit Lügen Wahlkämpfe gewonnen werden können, erleben wir dann eine Krise des Qualitätsjournalismus?
Bernd Gäbler: Ja. Wobei, es gibt da immer so Konjunkturen. Die sind aber ereignisabhängig. Es gibt Zeiten, da strotzen Journalisten geradezu vor Selbstbewusstsein, fühlen sich schon fast als die entscheidenden Ratgeber der Politik, als die Beeinflusser der Gesellschaft. Und dann gibt es wieder Phasen, da sind diese ganzen Kongresse voll von Asche auf unser Haupt, wir haben versagt usw.
Deutschlandradio Kultur: Welche Phase erleben wir zurzeit?
Bernd Gäbler: Im Moment erleben wir die zweite, was eben daran liegt, Sie haben ja die Ereignisse genannt, die Wahl von Trump, Brexit und anderes, dass die Presse in der eigenen Erwartung oft falsch gelegen hat. Ich finde das nicht so wahnsinnig schlimm, weil, es ist natürlich eine völlig idiotische Ideologie zu glauben, bis gestern hätte immer alles, was in der Zeitung gestanden hat, gestimmt, und ab Trump oder eben Brexit sei das fundamental anders.
Deutschlandradio Kultur: Nun gibt es eine Umfrage, Herr Gäbler, des Bayerischen Rundfunks. Rund 60 Prozent der Befragten glauben demnach, dass unerwünschte Informationen von den Medien, also auch den etablierten Medien ausgeblendet werden und dass es für Korrespondenten, für Reporter, für Redakteure staatliche Vorgaben gibt. – Woher kommt dieses Misstrauen gegenüber den Medien, dass sie gelenkt sind, dass sie nicht die Wahrheit sagen?

"Der Journalismus begreift sich oft sehr stark als Elitenbegleitung"

Bernd Gäbler: Ja, es liegt vieles daran, dass die Leute natürlich selber sich gar nicht die Mühe machen, sich in den Pluralismus hinein zu begeben. Da sind viele Ungebildete, die einfach bestimmte Dinge auch glauben. Das ist klar. Aber es hat auch was mit der Art des Journalismus selbst zu tun. Ich will auf zwei, drei Punkte eingehen.
Ich glaube, dass viele Leute etwas empfinden, was auch ein reales Problem des Journalismus ist, dass der Journalismus sich doch oft sehr stark vor allen Dingen als Elitenbegleitung selbst begreift.
Ich sage mal ein Beispiel: Wir hatten diesen Fall dieses schrecklichen Mordes in Freiburg. Und dann gab's die große Debatte, warum kam das nicht in der Tagesschau, und dann kam es doch. Die Tagesschau hat es offen debattiert, das kann man begrüßen, und hat dann gesagt als Argument, erst haben sie es nicht gebracht, das war ein lokales Ereignis in Freiburg, dann aber wurde es wichtig, weil immer mehr Politiker Stellung bezogen haben, wurde zu einem Politikum. Und da war es auch Thema in den Tagesthemen.
Daran sieht man aber die Perspektive, die viele Menschen nicht teilen. Es wird wichtig in dem Moment, wo es Politikum ist, wo die Politiker Stellung beziehen.
Deutschlandradio Kultur: Konkret in dem Fall ging es ja darum, dass dieser Vorfall, dieser Mord deshalb wichtig wurde, weil der Verdächtige ein afghanischer Flüchtling ist.
Bernd Gäbler: Genau.
Deutschlandradio Kultur: Also wird eine Tatsache deshalb wichtig, weil die Herkunft jetzt in dieser politischen Situation entscheidend ist?
Bernd Gäbler: Nein. Aber weil zum Beispiel in Freiburg, wo eine große rot-grüne Willkommenskultur herrscht, schon vorher plötzlich Angst da war, weil man darüber redete, was da los war. Und ein Reporter vor Ort hätte eben wissen müssen: Schon ab da ist das von gesamtgesellschaftlicher Relevanz, nicht erst, wenn der Innenminister oder AfDler oder andere, die es verteidigen, darüber reden. Ich meine damit, dass die Perspektive des Journalismus eben oft nicht von den Betroffenen her kommt, sondern von den Eliten.
Das ist oft gut gemeint. Es gibt so was fast gelegentlich wie eine Art Verantwortungsgemeinschaft zwischen Journalisten und Politikern. Ich glaube, die jetzige Zeit ist alles in allem eine große Stunde für den Reporter, also der, der vor Ort geht und sagt, so ist es. Der sagt, "ich gehe nach Ohio". Und solche Reportagen gab es: "Komischerweise, obwohl Clinton acht Punkte vorne liegen soll, sind hier alle, die ich treffe für Trump. Alle weißen Arbeiter, wo denen das Stahlwerk abgebaut worden ist, sind für Trump". Dieses alte Motto von Egon Erwin Kisch: "Schreib das auf, so wie es ist, nicht, wie du es glaubst."
Deutschlandradio Kultur: Und das tun die Medien zu wenig?
Bernd Gäbler: Natürlich, viel zu wenig. Die Journalisten, da gibt’s auch Untersuchungen, haben am Tag elf Minuten Zeit für Recherche. Die sitzen an den Schreibtischen, beobachten alles Mögliche an anderen Medien, schreiben auf, was Trending Topics auf Facebook sind, vermelden die vermeintlichen Mehrheiten in diesen sozialen Netzwerken, holen sich Themen da raus, aber es gehen viel zu wenige Leute vor Ort. Und das liegt natürlich daran, dass Reporter teuer sind, dass sie sich auskennen müssen in Gegenden, in denen sie unterwegs sind.
Deutschlandradio Kultur: Aber gleichzeitig, Herr Gäbler, sehen wir doch, Rechercheverbunde haben einen Aufschwung. Wir sehen, die Süddeutsche Zeitung im Verbund mit WDR, mit NDR decken komplizierte Finanzmauscheleien auf. Also, gerade investigativer Journalismus ist auch zu einem Qualitätsbegriff geworden. Das würde dem widersprechen, was Sie sagen.

Rechercheverbunde: "Im Großen und Ganzen sind es Notgemeinschaften"

Bernd Gäbler: Nein, ich sehe das so: Ich finde es auch begrüßenswert, dass es das gibt. Aber ich sehe da doch, im Großen und Ganzen sind es Notgemeinschaften. Schon, dass man das so hervorheben muss, dass es was ganz, ganz Besonderes ist, dass es Journalisten gibt, die investigativ sind, das sollte ja woanders eigentlich üblich sein.
Und ich glaube, dass diese Zusammenschlüsse nicht völlig problemfrei sind, weil sie zumindest einen Effekt haben, dass nämlich die, die kooperieren, in der Regel sich nicht gerne wechselseitig kritisieren. Wenn Sie zum Beispiel sehen, zum tausendsten Tatort steht im "Spiegel" dasselbe drin, was am Montag danach als Film in der ARD dazu läuft, derselbe Autor. Im "Zeit-Magazin" schreibt eine Autorin eine tolle Geschichte über Adolf Sauerland, diesen früheren Duisburger Oberbürgermeister, die gleichzeitig den Film im WDR macht. Also, das heißt, durch Kooperationen wird wechselseitige Kritik eingeschränkt. Oder es ist unheimlich schwer, wenn jemand von Gruner und Jahr aus irgendeiner Zeitschrift dort einen kritischen Artikel über RTL schreiben möchte, weil die beide eben zu Bertelsmann gehören.
Also, solche Strukturen sind eher Notgemeinschaften. Ich finde das toll, was die da machen, also, Panama Papers und sonst was rauskriegen, aber eigentlich müsste es vielmehr Alltag sein. Und hinter allem steckt die große Frage: Wie ist in dieser Gesellschaft überhaupt in Zukunft noch Journalismus zu finanzieren?
Deutschlandradio Kultur: Ein beherrschendes Thema in den letzten anderthalb Jahren war die Flüchtlingskrise. Gerade da wurde dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk, aber auch anderen Medien ja vorgeworfen, quasi Botschafter der Willkommenskultur zu sein und nicht da hinzuschauen, wo es die Probleme gibt bei der Unterbringung, bei der Versorgung, bei der Integration. – Teilen Sie den Eindruck?
Bernd Gäbler: Na ja, es gibt schon so etwas wie – sagen wir mal – eine gut gemeinte Einseitigkeit. Ich bin jetzt nicht sehr begeistert davon, dass so unglaublich viele Journalisten, die vorher die Willkommenskultur propagiert haben, dann ein halbes Jahr später Asche aufs Haupt streuen und sagen, wir haben alles falsch gemacht. Wir hätten das viel vorher alles kritisch sehen müssen. Das kommt mir auch ein wenig opportunistisch vor, nach der jeweiligen Stimmungslage handeln und nicht nach den Fakten.
Was es aber gibt, und darüber muss man reflektieren, ist, dass oft ein und derselbe Tatbestand unterschiedlich berichtet wird. Ich sage wieder ein Beispiel:
Als Ungarn sich anschickte, gewisse Flüchtlingsströme aufzuhalten und diese dagegen protestierten, sahen wir im deutschen Fernsehen sehr stark, fast ikonographisch Mütter mit Kindern, die drangsaliert, abgehalten wurden von diesen ungarischen Grenzern. Da stand die Aussage dahinter: Schrecklich, die müssen durchgelassen werden.
In der BBC gab es zeitgleich Berichte, da sahen Sie geradezu Formationen junger männlicher Flüchtlinge, die bewaffnet mit Steinen und Knüppeln diese ungarischen Grenzer angriffen. Und die Kommentare waren, dass das, was diese Flüchtlinge hier machen, sicher dem Anliegen der Flüchtlinge schaden würde. Diese Bilder sah man bei uns nicht.
Also, Elemente von – sagen wir mal – eigentlich gut gemeinter Einseitigkeiten, gut gemeint heißt ja dann immer, dass es nicht wirklich gut ist, die gab es schon.
Deutschlandradio Kultur: Der Medienwissenschaftler Norbert Bolz aus Berlin sagt: "Da sind zu viele Volkspädagogen am Werk, zu wenig Reporter, die einfach beschreiben, was ist."Hat er recht?
Bernd Gäbler: Jein. Auf jeden Fall teile ich die Kritik, wenn Journalisten dazu übergehen zu glauben, das entscheidende journalistische Kriterium, und danach werden dann journalistische Preise verliehen, sei der Begriff der Haltung. Also, wenn jemand eine tolle und richtige Haltung habe, dann sei er ein guter Journalist.
Ich glaube, ein guter Journalist schreibt auf, was ist, und versucht vor allen Dingen dann Dinge zu erforschen, wenn sie ganz anders sind, als er sie erwartet hat.
Und vielleicht noch eine zweite Sache, die sehr wichtig ist, sie knüpft auch an an das, was wir am Anfang gesagt haben mit den Fake News: Ganz, ganz wichtig und auseinander zu halten ist Tatsache und Meinung. Das fällt den Deutschen generell schwer. Und es hat sich auch eingebürgert, dass sich in journalistischen Formen, Ich-Reportagen und ähnlichem, eigentlich die Differenz von Berichterstattung und Kommentierung weitgehend auflöst. Und das ist keine gute Entwicklung.
Deutschlandradio Kultur: Sie haben gesagt, es wird zu wenig recherchiert. Nun haben Sie auch angedeutet, die Bedingungen für Journalisten sind schwieriger. Die Medienlandschaft ist hochgradig konzentriert. Es fällt den Verlagshäusern immer schwerer, mit Print-Medien auch Geld zu verdienen. Da haben viele Zeitungen fusioniert. Da werden Redaktionen zusammengelegt. Das sehen wir hier auch in der Hauptstadt. – Gibt es da überhaupt noch eine Zukunft, eine ökonomische Zukunft für qualitativen Journalismus in den etablierten Medien, wie wir sie kennen?
Bernd Gäbler: Herr Schröder, ich will es ganz grundsätzlich sagen. Ich glaube, wir leben am Fuße einer Entwicklung oder einer Ära, die bedeutet, dass das System der Massenmedien, so wie wir es kennen, aufhört zu existieren. Also, seit Gutenberg, seit dem Druck gibt es Massenmedien. Die machen im Prinzip nichts anderes als identische Reproduktion. Also, wenn Sie morgens den Kölner Stadtanzeiger lesen, können Sie sagen, 120.000 andere lesen dasselbe. Wir diskutieren über dieselben Dinge.

Sehr stark individualisierte Kommunikation

Wir treten jetzt in eine Phase ein, in der dieses Massenmediale, was ja immer auch ein bisschen paternalistisch ist, weil die Redaktion, die redaktionelle Aussage: Gatekeeper, die sagt, das ist wichtig, das ist unwichtig, sich auflöst zugunsten einer sehr stark individualisierten Kommunikation. Die kann global sein, aber nach individuellen Interessen. Also, ich interessiere mich für Syrien, die Offenbacher Kickers und Beyonce. Und dann kriege ich dazu alles geliefert nach Algorithmen, was ich brauche. Der Rest der Welt muss mich nicht unbedingt interessieren.
Wie kriegen wir da Qualifikation rein? Wie kriegen wir bei den veröffentlichten Meinungen Qualifikation rein?
Deutschlandradio Kultur: Wie lautet Ihre Antwort?
Bernd Gäbler: Meine Antwort lautet im Großen und Ganzen: Die Bedingungen dafür sind Pluralismus, das heißt, möglichst eine große Vielfalt von Meinungen. Das heißt, wir brauchen eine andere Art dieser Gesellschaft, Journalismus zu finanzieren. Wir werden zu allen möglichen Fördermodellen kommen müssen, um überhaupt eine pluralistische Medienlandschaft zu erhalten. Und die zweite Antwort für die Individuen selbst heißt: Bildung, Bildung, Bildung!
Also, nicht Medienbildung im Sinne, wie benutze ich die Geräte, sondern dass mir bestimmte Dinge einfach historisch bewusst sind. Und die Menschen müssen wissen, was ist wahr. Dazu braucht man historisches Bewusstsein. Und was ist eine Meinung, die ich zur Kenntnis nehme.
Deutschlandradio Kultur: Wir haben die finanzielle, die ökonomische Situation der Zeitungsverlage angesprochen. Die bemühen sich ja jetzt derzeit, um Modelle zu entwickeln, wie kann man im Internet mit Medien, mit Informationen Geld verdienen. So eine richtig schlüssige Antwort hat da bislang keiner gefunden. Die Grundtendenz ist, im Internet muss alles kostenlos sein. Dem geben Sie also auch keine Chance, dass auch qualitativer Journalismus bezahlt wird und eine finanzielle Grundlage findet?
Bernd Gäbler: Nein, man kann grundsätzlich sagen: Wer guten Journalismus will, und Journalismus ist wichtig für diese Gesellschaft, der muss auch zahlen. Wir sind gewohnt an diese Kostenloskultur. Das haben Sie gesagt. So ist es auch. Daraus entsteht nie und nimmer guter Journalismus. Was zu befürchten ist, ist, dass wir eine starke Auseinanderentwicklung der Gesellschaft haben, dass es also nach wie vor eine Anzahl teurer Leitmedien, Elitemedien gibt, dass also die "FAZ", die "Süddeutsche Zeitung", der "Spiegel" usw. immer noch ein Gewicht haben, aber immer geringere Größenordnungen. Also, dass – was weiß ich – die "Süddeutsche Zeitung" dann drei Euro kostet und nur noch 150.000 Auflage hat, dass es dann eine Fülle von anderen Medien gibt, wo es eine ganz große Schwierigkeit wird, da Qualität durchzusetzen.
Und dazu brauchen wir gesellschaftliche Modelle. Ich will jetzt nicht das Wort reden einer öffentlich-rechtlichen Zeitung, aber da wird es Mäzenatentum, da wird es solche Formen geben, damit man da tatsächlich noch vernünftigen Journalismus erzeugen kann.
Deutschlandradio Kultur: Wenn wir mal kurz Bilanz ziehen: Also, auf der einen Seite etablierte Medien, deren Zukunft ungewiss ist, auf der anderen Seite soziale Medien, hoch individualisiert, die aber gleichzeitig große Einfalltüren bieten für Falschmeldungen, für Desinformation. Wenn wir diesen Spannungsbogen sehen, wie gefährlich ist das für die Demokratie?
Bernd Gäbler: Ja, natürlich, es ist gefährlich und das heißt, es muss einen Kampf geben um die veröffentlichte Meinung. Und alles, was im Netz die Prosumenten, also die, die konsumieren, aber auch produzieren, machen, ist inzwischen eben veröffentlichte Meinung. Und man muss um die Qualifikation davon kämpfen.
Das heißt für Journalisten, dass sie auch ihre eigene Arbeitsweise immer stärker transparent machen müssen. Das tun einige schon. Das finde ich eine wichtige Einrichtung, damit wir nicht medial was erleben, was viele glauben, dass es auch sozial schon stattfindet, nämlich eine große Spaltung der Gesellschaft und dass keine integrativen Kräfte mehr da sind.
Das ist ein großes politisches Problem. Das ist ein soziales Problem und selbstverständlich auch ein mediales Problem. Aber auf allen Ebenen wird man darum kämpfen müssen, wenn man wirklich Demokrat ist. Und Demokrat heißt, dass man nicht für eine Eliteherrschaft ist, sondern man wirklich alle mitnehmen will.
Deutschlandradio Kultur: Herr Gäbler, ich danke Ihnen für das Gespräch.
Bernd Gäbler: Ich danke.
Mehr zum Thema