Mauerfall aus europäischer Sicht

Von Susanne Burkhardt · 15.09.2009
Im Rahmen des europäischen Theaterprojektes "After the fall" wird der Fall der Mauer vor 20 Jahren nicht als deutsches Ereignis thematisiert, sondern im Kontext Europa. 17 Autoren aus 15 europäischen Ländern haben jeweils ein Stück geschrieben, in dem sie ihre Sicht auf die gesellschaftlichen Umbrüche ihrer Heimat beschreiben.
Himmlisch Ribnei – so heißt ein kleines sudetisches Kaff. Ein Grenzort, in dem nur noch alte Leute leben und drei junge Frauen. Sie arbeiten bei der freiwilligen Feuerwehr und haben gerade einen Brand gelöscht, als eine fremde Dame auftaucht, die sie mitnehmen will. Unzufrieden mit ihrem faden Leben in Ribnei gehen die drei auf eine Zeitreise, die drei historische Ereignisse kreuzt: den Zweiten Weltkrieg, die Zeit des Prager Frühlings und den Mauerfall.

Barbora Vaculová, die 30-jährige Autorin, hat sich mit einem deutsch-tschechischen Team vom Prager Theater Leti zusammengetan und deren eigene Erfahrungen mit dem Mauerfall einfließen lassen.

"Als die Mauer fiel, waren die meisten aus dem Team genauso wie ich gerade einmal zehn Jahre alt oder noch jünger. Unsere Erinnerungen an die Zeit sind also eher emotional. Es hat sich für uns damals viel verändert: Wir konnten plötzlich reisen, Fremdsprachen lernen, was vorher wenig Sinn machte. Dieses Zeitgefühl versuchen wir, in unserem Stück zu reflektieren – und es ist eben auch eine Folge des Mauerfalls, dass wir jetzt mit Leuten aus beiden Teilen Deutschlands zusammenarbeiten und Projekte entwickeln können."

Ganz selbstverständlich wird auf der Bühne Tschechisch und Deutsch gesprochen – oder in der jeweils anderen Sprache übertitelt. Erzählt wird meist aus einer ungewöhnlichen Perspektive: Szenen des Prager Frühlings – erlebt bei einem internationalen Musikfest in Bayreuth, der Mauerfall aus Innensicht der Prager Botschaft. Gleich zwei Regisseurinnen versuchten sich an dem Text, der – trotz junger Autorin - erstaunlich weit in die Geschichte zurückblickt und wenig in die Zeit nach dem Mauerfall. Martina Schlegelova – aufgewachsen in Tschechien mit deutschem Vater und Susanne Chrudina, aufgewachsen in Deutschland, mit tschechischen Eltern, sahen sich beim jungen Ensemble beim Blick auf historische Ereignisse mit einem sehr unterschiedlichen Wissenstand konfrontiert:

Chudina: "Da gibt es so eine Lücke, wo es mich gewundert hat – zum Beispiel der Prager Frühling, dass da das Wissen relativ gering war. Worüber ich relativ viel wusste, weil meine Mutter an diesem 21.8.1968 als eine von sechs Personen das Land verlassen hat – das einfach für die Familie eine Rolle spielte, ich viele Geschichten darüber gehört habe, ..., ich finde das ein sehr wichtiges Ereignis, für das wie ich die Tschechen begreife, also wie man mit so einer Besatzung umgeht, wie man sich wehrt auf so eine spezielle und eigene Art (oben) ... das fand ich schon sehr interessant."

Während die teilnehmenden osteuropäischen Länder des Theaterprojektes das Ende des Kommunismus und dessen Folgen am eigenen Beispiel verarbeiten konnten, setzten sich die Beiträge aus Westeuropa vor allem mit dem Thema Globalisierung und deren durchaus nicht nur positiven Seiten auseinander. Martin Berg, einer der Kuratoren des Projektes:

"Das Gemeinsame ist, dass das Thema Grenze immer eine Rolle gespielt hat, Grenzen die fallen – das heißt, die Reisefreiheit, die dann für viele möglich wird – aber auch die Angst vor fallenden Grenzen, also vor dem, was dann ins Land hereinkommt, dass natürlich eine Angst da ist, dass man jetzt aus dem Ausland überrollt wird, sag ich jetzt mal überspitzt – und dieses Überspitzte haben die Autoren reingebracht."

Der deutsche Autor Dirk Laucke schreibt in seinem Stück mit dem Titel "Für alle reicht es nicht", dass die Mauer gar nicht verschwunden, sondern nur nach außen gerückt sei. Weil wir uns abschotten, gegenüber denen, die nicht im Schengen-Abkommen sind. Wie wenig wir voneinander wissen, zeigt ein Beitrag aus der Republik Moldau. Er beschreibt das Leben in einer ehemaligen Sowjetrepublik , das sich durch den Fall der Mauer so gut wie gar nicht verändert hat. Von wegen Umbruch: "Die Ohnmächtigen bleiben ohnmächtig", so das bittere Fazit der Autorin. Martin Berg:

"Unsere europäischen Nachbarn, da denkt man, man kennt sich einigermaßen aus, man schaut die Nachrichten, aber was man da sieht, sind politische Nachrichten, Wirtschaftsdaten, was man nicht weiß, ist was bedeutet das für den Alltag der Menschen, was sind deren Sehnsüchte, deren Befürchtungen und das ist einfach so viel deutlicher in solchen Theaterstücken erkennbar, weil Theaterstücke von Menschen handeln, auch von normalen Menschen."

"After the Fall" ist genau deshalb ein wichtiges Projekt, weil es aufmerksam macht für Unterschiede und Gemeinsamkeiten. Warum beispielsweise sind die Deutschen so gleichgültig gegenüber den Tschechen? Warum wissen wir so wenig über sie – auch wenn wir eine lange Grenze teilen? Diese Fragen beantworten der Abend in Prag nicht. Aber er lässt sie überhaupt aufkommen.

Die drei Frauen aus dem "Mauerschau-Cabaret" in Prag finden am Ende heraus, wer die Frau ist, die sie mit auf die Reise genommen hat. Wie Dürrenmatts Alte Dame, ist sie gekommen, um eine Geschichte aus der Vergangenheit aufzuarbeiten. Einst wurde hier ihr Vater von einem Grenzsoldaten erschossen. Dieser Grenzpolizist war der Vater eine der drei Frauen. Auch er ist längst tot – erschossen – so die andere Version - vom Grenzflüchtling, dem Vater der Besucherin. Wer war Täter – wer Opfer? Der Abend, der an manchen Stellen etwas zu laut und zu bemüht geraten ist, entlässt den Zuschauer mit der Erkenntnis, dass das Leben mit seinen Erscheinungen zu komplex ist für einfache Wahrheiten. Und das es wichtig ist, die Version des anderen zu hören, bevor geurteilt wird.

Theaterprojekt After the fall