Mathias Richling zu 20 Jahre Lauschangriff

Warum niemand mehr für seine Freiheit kämpfen will

 Der Kabarettist Mathias Richling
Der Kabarettist Mathias Richling © picture alliance / dpa / Bodo Marks
Moderation: Dieter Kassel · 16.01.2018
Für ein paar Minuten öffentliche Aufmerksamkeit geben viele in den Sozialen Netzwerken ihre Daten preis, kritisiert der Kabarettist Mathias Richling. Und wenn der eigene Kühlschrank zur Datenkrake wird, erscheine plötzlich sogar der Große Lauschangriff "harmlos und rudimentär".
Als der Deutsche Bundestag vor 20 Jahren den Großen Lauschangriff beschloss, der das Abhören von Wohnungen im Zusammenhang mit einer Strafverfolgung ermöglichte, war die Aufregung unter Liberalen, Linken und Bürgerrechtlern groß.
"Wir waren fassungslos", erinnert sich der Kabarettist Mathias Richling. Im Licht der heutigen Situation, wo sich viele Menschen selbst von ihrem eigenen Smartphone bereitwillig überwachen lassen, wirkten solche Maßnahmen allerdings geradezu "rudimentär und harmlos", so der Kabarettist im Deutschlandfunk Kultur.
"Wir haben eine Gesellschaft inzwischen, die natürlich diesen Exhibitionismus und Voyeurismus lebt und sich auf der einen Seite empört, wenn zu viele Daten gespeichert werden auf der Gesundheitskarte, auf der anderen Seite aber viel, viel mehr posten auf Facebook, und zwar Marginalien: Wo gehe ich essen? Wann gehe ich essen? Wann scheiße ich es wieder aus, wenn ich mich so ausdrücken darf."

"Was sagt denn das Netz dazu?"

Hinter diesem Exhibitionismus steht Richling zufolge eine gesteigerte Aufmerksamkeit für den Einzelnen: "Früher waren Leserbriefe versteckt auf Seite 25 und wurden gekürzt von der Tageszeitung. Heute schalte ich ntv ein oder N24 oder irgendeine andere: dann gibt es eine erste Meldung und die zweite Meldung ist gleich: Was sagt denn das Netz dazu? Herr Furzipurzi und Herr Futzelfummel – was sagt der dazu?", so Richling. "Und das macht das so gefährlich, weil wirklich jeder jetzt sich wichtig fühlt, und wenn es nur für fünf Minuten ist."
Dagegen habe niemand mehr das Bedürfnis, für Freiheit und Selbständigkeit zu kämpfen, bedauert Richling. "Wir fangen mit der Freiheit nichts mehr an, weil wir sie haben. Wir müssen sie nicht erkämpfen, das ist das große Problem. (...) Wir haben die Freiheit geerbt und haben sie nicht selbst erkämpft."
(uko)

Derzeit ist Mathias Richling mit seinem Programm "Richling und 2084" auf Tournee. Die nächste Station ist Mainz, wo er vom 1.-7.2. im "Unterhaus" auftritt.


Das Interview im Wortlaut:
Dieter Kassel: Am Morgen des 16. Januar, das ist ein historisches Datum, zumindest in Deutschland. Denn vor genau 20 Jahren, an diesem Tag beschloss der Deutsche Bundestag eine Grundgesetzänderung. Sie ermöglichte unter anderem den Einsatz von Minisendern, also letzten Endes Wanzen und Richtmikrofonen in Wohnungen und ging unter dem Begriff "der große Lauschangriff" in die Geschichte ein.
20 Jahre später ist der Kabarettist Mathias Richling mit seinem neuen Soloprogramm unterwegs und dieses Programm hat er "Richling und 2084" genannt, und da ahnt man schon, dass es da um Überwachung geht. Nicht unbedingt in Bezug auf dieses historische Datum, aber in Bezug auf das Orwell-Buch "1984" natürlich, da ist der Titel hergeleitet und es geht um die Überwachung heute. Ich habe in einer Probenpause mit Mathias Richling gesprochen und ihn aber dennoch gefragt nach diesem Tag vor 20 Jahren, wie er den in Erinnerung hat.
Mathias Richling: Wir waren ja fassungslos, vor allen Dingen weil es ja einherging in der Folge so, es war dann so etwa zehn Jahre vorher, die Geschichte mit der Volkszählung, das hat uns damals schon empört. 83 war das erste Kontrollbedürfnis zu fragen, wie groß ist die Wohnung, wie viele Zimmer hat sie, wer ist länger als drei Monate bei Ihnen zu Gast und so weiter. Das hat uns schon aufgebracht. Und das hat uns natürlich erst recht aufgebracht, also die Durchleuchtung des Bürgers, die wir damals so empfanden – was in heutiger Sicht natürlich rudimentär und harmlos wirkt, hat uns entsetzlich empört. Natürlich habe ich darauf reagiert, klar.

Was Herr Furzipurzi und Herr Futzelfummel dazu sagen

Kassel: Aber konnten Sie sich damals, vor 20 Jahren, meinetwegen auch vorher, vorstellen, wie sich das entwickeln würde mit der Überwachung? Ich meine, wenn wir an den Lauschangriff denken, Richtmikrofone, Telefone anzapfen, das wirkt ja heute fast lächerlich, wenn man guckt, wie Leute sich moderne Lautsprecher kaufen, Alexa oder so, und die Überwachung sozusagen für 85 Euro sich zu Weihnachten schenken!
Richling: Das ist ja das Problem, nicht wahr. Wir haben eine Gesellschaft inzwischen, die natürlich diesen Exhibitionismus und Voyeurismus lebt und sich auf der einen Seite empört, wenn zu viele Daten gespeichert werden auf der Gesundheitskarte, auf der anderen Seite aber viel, viel mehr posten in Facebook, und zwar Marginalien: Wo gehe ich essen, wann gehe ich essen, wann scheiße ich es wieder aus, wenn ich mich so ausdrücken darf. Das ist ja gnadenlos, diese Prostitution von einem selber. Das hat aber mit einer Veränderung in der Gesellschaft zu tun, die wir uns vor 30 Jahren nicht hätten vorstellen können. Also ich bin nicht bei Facebook, es gibt vielleicht eine Seite, das machen Fans, aber ich gehe da nicht rein.
Warum ist das überhaupt so, dass die Leute sich so öffnen und so alles hergeben von sich? Weil sie dadurch wichtig werden. Jeder Einzelne wird – das große Ziel eigentlich der 68er auch, die auch 50 Jahre alt werden dieses Jahr, oder die Bewegung wird 50 Jahre alt –, das heißt, der Einzelne hat eine Aufmerksamkeit, die wir uns auch früher nicht vorgestellt haben. Früher waren Leserbriefe versteckt auf Seite 25 und wurden gekürzt von der Tageszeitung, heute schalte ich n-tv ein oder N24 oder irgendeine andere, dann gibt es eine erste Meldung und die zweite Meldung ist gleich, was sagt denn das Netz dazu, Herr Furzipurzi und Herr Futzelfummel, was sagt der dazu, der früher nie ein Wort ge… Und das macht es so gefährlich, weil wirklich jeder jetzt sich wichtig fühlt, und wenn es nur für fünf Minuten ist – die alte Formulierung von Beuys.

"Ich möchte selbst entscheiden, wann das Licht angeht"

Kassel: Ist es nicht auch Bequemlichkeit? Ich will jetzt nicht so sehr auf diesen Lautsprechern rumreiten, wobei es mich beschäftigt, dass man sich da ein Ding in die Wohnung stellt, das in der Grundeinstellung, die kaum jemand verändert, einfach zuhört, was man in der Küche oder im Wohnzimmer bespricht, und das nimmt man in Kauf, nur weil man dann mit der eigenen Stimme das Licht ausschalten kann. Also das ist doch auch Bequemlichkeit, wir haben alle uns irgendwie daran gewöhnt, ach, die Leute wissen sowieso alles über uns!
Richling: Ich weiß nicht, ob das Bequemlichkeit ist. Ja, nennen Sie es Bequemlichkeit. Ich finde es eine Bevormundung, die unglaublich ist. Ich möchte gerne selber entscheiden, wann das Licht angeht, und möchte nicht das Licht angemacht bekommen, wenn ich den Raum betrete, und ich möchte nicht, dass das Licht wieder ausgeht, wenn ich raus aus dem Raum gehe. Das macht mich wahnsinnig.
Wenn ich ein neues Auto habe, da sind heute ja Sachen in diesem Auto drin, unabhängig von der Vorstellung, dass man bald selber nicht mehr fahren soll … Gut, dann kann ich mich auch in den Zug setzen, so ähnlich wird es dann sein, schön und gut. Aber wenn ich mich heute hinters Steuer setze, kriege ich also gepiepst, wenn von hinten einer kommt, von oben einer kommt, von unten einer kommt, dauernd piepst dieser Wagen, und es macht einen rasend! Und es ist eine Bevormundung des selbstständigen Bürgers, muss man ehrlich sagen.
Natürlich, es hat sicher mit Bequemlichkeit zu tun, das ist sicher richtig, dieses alte Goethe-Wort, lass mich zum Augenblick sagen: Verweile doch!, nicht wahr. Der Mensch ist bequem und wenn er sich vor den Fernseher hinknallt und dann lässt er sich zurückfallen, hat sicher damit zu tun, ja. Aber es ist trotzdem gleichwohl nicht weniger erschreckend, wenn man sich überlegt, worüber man sich echauffiert hat und wie man sich hier ausspionieren lässt, das ist schon ziemlich heftig.

"Wir glauben nicht an unserer Selbständigkeit"

Kassel: Nun kommt ja dann immer gerne von Leuten, denen man das sagt – du passt nicht auf, ganz viele Daten werden über dich gesammelt –, das Argument: Na ja, ich habe ja nichts zu verbergen! Sie haben über Autos gesprochen, GPS merkt sich jede Strecke, die man fährt, übrigens auch, wenn man es nicht benutzt, um den Ort zu finden. Aber da sagt natürlich einer, wenn ich jetzt von Stuttgart-Vaihingen in die Innenstadt fahre, was ich sowieso jeden Tag tue, ist doch nicht schlimm, wenn das jeder weiß!
Richling: Ja, ich finde … Ja, ich kenne das Argument. Und vor allen Dingen ist das Argument auch in Veränderung begriffen. Wenn ich also vor drei Jahren jemandem gesagt habe, WhatsApp gab es damals in dem Maße noch nicht, aber andere, Google und so weiter, die speichern alles: Ach so, ach, da muss ich mal aufpassen! Heute sage ich Leuten, wenn ihr bei WhatsApp seid und ich bin es nicht und ihr habt meine Nummer, ist nach deutschem Recht es heute möglich, dass, wenn WhatsApp meine Nummer über euer Telefon abgreift, dass ich euch deswegen verklage! Höre ich als Antwort: Ja, na und? Was soll ich verbergen?
Und diese … Das hat schon … Ich glaube, es hat damit zu tun, dass natürlich im Gegensatz zu vor 20 oder 30 oder auch vor 50 Jahren wir nicht mehr das Bedürfnis haben, für unsere Freiheit zu kämpfen oder unsere Selbstständigkeit. Wir glauben nicht an unsere Selbstständigkeit, wir schlachten sie auf dem Altar der Überzeugung, weil wir sagen, es ist für den höheren Zweck. Was weiß ich, erst mal die Bequemlichkeit und natürlich dann, um auf den Lauschangriff zurückzukommen, Terrorbekämpfung und so weiter und so weiter.

Freiheit ist für viele eine Selbstverständlichkeit

Also, die Freiheit ist für uns im Grunde genommen … Wir halten sie nicht für überlebenstauglich, wir fangen mit der Freiheit nichts mehr an, weil wir sie haben. Wir müssen sie nicht erkämpfen. Das ist das große Problem. Ob es Hunger ist oder ob es was anderes ist: Wenn du was nicht erkämpfen musst und es vererbt bekommst, wir haben die Freiheit geerbt und haben sie nicht selbst erkämpft, die meisten leben nicht mehr von 1945 oder sind über eben entsprechend fast 80 Jahre oder noch älter, es ist eine andere Zeit und eine andere Generation, die damit anders umgeht und sich das gefallen lässt.
Es muss erst ein Druck entstehen und ein Missbrauch entstehen. Ich möchte mir nicht ausmalen, wie das, was Herr Erdogan jetzt zum Beispiel alles veranstaltet, wie das möglich geworden ist, diese vielen Leute festzunehmen, im fünfstelligen Bereich Leute zu entlassen, festzusetzen und so weiter, durch Nutzung dieser Möglichkeiten. Und es muss erst ein starker Missbrauch passieren, damit man dann wieder zurückkommt zu dem, was wir vor 30 Jahren angeprangert haben oder vor 20 Jahren, mit der Einführung des Lauschangriffes.
Kassel: Aber das, finde ich, ist wirklich ganz klug. Weil, das Interessante ist ja, wenn wir mal relativ aktuell wieder auf die staatliche Überwachung kommen – wir haben jetzt viel über Unternehmen und Datenschutz gesprochen –, die NSA-Affäre, die liegt nun noch nicht so lange zurück, im Grunde genommen liegt sie gar nicht zurück, weil sie streng genommen nicht zu Ende ist. Aber Wahnsinnsaufregung, Medien waren voll, die sozialen Medien im Internet auch, aber es gab natürlich in Deutschland zumindest keine klassischen Opfer.
Es kam niemand, der sagen konnte … Nehmen wir früher mal irgendwelche Berufsverbote, weil jemand bei der DKP war: Niemand kann sagen, die NSA hat mich so stark überwacht, dass ich deshalb jetzt nicht mehr studieren darf oder so was. Das heißt, es fehlen eigentlich … Ist ja schön, wenn es keine Opfer gibt, aber für die Diskussion fehlen eigentlich die Opfer, ne?

"Sinnlos, sich dagegen aufzulehnen"

Richling: Und auch für die Konsequenz fehlen die Opfer. Also diese Veränderung des Leitsatzes des Rechtsstaats, "im Zweifel für den Angeklagten", dahin, dass man sagt: "Im Zweifel alle anklagen!", wird dadurch erleichtert, dass es keine Opfer gibt. Das ist aber eine Idee natürlich, die in alle Bereiche natürlich übertragbar ist, zum Beispiel hat Konrad Lorenz vor 50 Jahren schon gesagt, die Angst vor dem Atom… oder die Atombeschränkung, die atomare Beschränkung wird nur möglich sein durch einen Atomschlag.
Dann geht die Hälfte der Menschheit, sagt er, zugrunde, die andere Hälfte lernt daraus was, aber maximal, sagt Konrad Lorenz, für 30 Jahre und dann geht es wieder von vorne los. Das ist eine sehr bezeichnende Differenzierung und Definition des Lernens der Menschen. Erschütternd, aber wir kommen da nicht raus, das ist sinnlos, sich dagegen aufzulehnen. Wenn die Leute kein Bedürfnis dafür haben, kannst du machen, was du willst.
Kassel: Lassen Sie uns noch zum Schluss mal was machen, was biologisch völlig ausgeschlossen ist in der Realität! Lassen Sie uns mal vorstellen, dass wir tatsächlich im Jahr 2048 so ein Gespräch führen würden, wir beide! Würde das überhaupt noch so laufen wie heute oder würden Sie dann meine Fragen schon kennen, weil Sie mich überwacht haben, und ich kenne Ihre Antworten, weil ich Sie überwacht habe?
Richling: Das ist sehr schwierig vorauszusehen. Wir hätten ja 1984, worauf der Titel des Programmes "Richling und 2048" ja fußt, das ist aber nicht eine Definition, wie sieht 2084 aus, sondern es ist eine Definition dessen, was ist aktuell und wie entwickelt sich das weiter, wenn sich 1984 bis heute, nach 34 Jahren, so entwickelt hat, wie wir es gerade haben, wie mag sich das dann in weiteren über 60 Jahren entwickeln? Das ist unmöglich vorauszusehen, das hätten wir uns nicht träumen lassen, als wir 1984 gelesen haben in den 70er- und 80er-Jahren, und das ist völlig ausgeschlossen, das zu sagen.
Kassel: Sagt Mathias Richling, er ist mit seinem aktuellen Bühnenprogramm "Richling und 2084" unterwegs und ab dem 1. Februar eine knappe Woche lang im Unterhaus in Mainz zu erleben und nachher dann bis kurz vor Weihnachten mit kurzer Sommerpause eigentlich immer und überall in ganz Deutschland.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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